Seite - 422 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

422 März 1873 45 50 55 60 65 70 75 80 85 der Sängerin. Der Abschied im vorhergehenden Act ist vielleicht der dramatisch ergreifendste Moment des Ganzen. Kurz Signora Patti macht uns das Fumet erträg- lich, welches Buch und Partitur der „Traviata“ ausathmen. Die Leonore im „Trova- tore“, mehr Coloratur- als dramatische oder gar tragische Partie, war Signora Patti’s zweite Rolle. Hier trat vor Allem die Gesangsvirtuosin in den Vordergrund, – aus der vom Dichter und Componisten ziemlich physiognomielos, gleichsam als ab- stracte Prima Donna, ohne weiteren dramatischen Inhalt hingestellten Leonore läßt sich eigentlich nichts mehr machen, als sie wo möglich unübertrefflich schön von der ersten Note bis zur letzten herunterzusingen, und das that Signora Patti. In der vielbegehrten, im Grunde aber äußerst undankbaren Rolle der Azucena debütirte Signora Barbara Marchisio. Wir haben diese Künstlerin seit dem Jahre 1865 nicht wieder gehört, wo sie mit ihrer mittlerweile verstorbenen Schwester in Rossini’s „Semiramide“ Alles bezauberte. Ihr „Arsace“ zeigte uns damals, daß die beiden Schwestern zu dem immer spärlicher und seltener werdenden Geschlecht der Rossini-Sängerinnen von reinstem Gold gehörten. Die Art, wie die feine, noble Musik des Schwans von Pesaro gesungen sein will, wird allgemach unter die ver- schollenen Traditionen zu registriren sein – Barbara Marchisio kann dem Ruhm beanspruchen, diese Traditionen zu bewahren. Aber fast traurig könnte es machen, daß binnen der kurzen acht Jahre, die seit jenem Semiramis-Abend verflossen sind, über die so klangvolle Stimme der Sängerin „die Zeit“ (man erlaube mir ein Plagi- at oder Citat aus Eichendorff) „mit ihrem Pelzärmel verwischend hat hinfahren dürfen“. Hat aber die Stimme, wie es vorläufig nach der einen Rolle der Azucena schei- nen will, nicht mehr völlig die frühere Frische, so ist doch die Gesangskunst un- verändert geblieben; leider bietet die Azucena mit ihrem ohne Ende wiederholten Leib- und Trauerwalzer nur wenig Gelegenheit, diese Kunst zu bethätigen. Herr Nicolini rief durch sein hohes C beim Publicum gewaltigen Applaus hervor – eine edel vorgetragene Melodie ist uns für unsere Person lieber. Er und Graziani sind vom vorigen Jahre her in gutem Andenken. Die Uebrigen, welche mit ihrer „Scrit- tura“ in der Tasche hergekommen sind, um uns als Apostel Donizetti und Verdi zu predigen, mögen mehr oder minder als Lückenbüßer hingehen, als böhmische Steine, neben denen der Solitär Patti doppelt funkelt, obwohl dieser Solitär wahr- lich nicht erst der Contraste bedarf, um überhaupt zu funkeln. Der brünetten Nachtigall aus dem Süden stellen wir vier blonde Nachtigallen aus dem Norden entgegen – der Italienerin vier Schwedinnen. Ich bedauere bei- nahe, daß ich das, was ich über das „schwedische Damenquartett“ hier sagen will, nicht roth drucken lassen kann, wie Festtage im Kalender. Ist es das Neue, das Ungewohnte der Sache, verbunden mit einer wahrhaft vollendeten Ausfüh- rung – ich trage kein Bedenken zu sagen, daß der Gesang der vier Damen aus Schweden zu dem Bezauberndsten gehört, was mir auf musikalischem Gebiete je vorgekommen. Ernst, beinahe feierlich treten die vier kräftigen Blondinnen alle in ganz gleicher einfacher Toilette aufs Podium – sie nehmen in einer Reihe neben einander Stellung, wechseln einen Blick und nun – sind das Menschenstimmen oder ist es der leise, schwellende Accord einer Harmonica, was an unser Ohr schlägt? In unglaublicher Reinheit tönen die Harmonien zusammen, die Damen