Seite - 423 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

423 März 1873 90 95 100 105 110 115 120 125 130 könnten singen, was sie wollten, schon der bloße Klang würde uns mit magischer Gewalt ergreifen. Nun sind es aber ganz originelle, bald melancholisch ernste, bald übermüthig heitere schwedische Weisen, für uns ganz neue Gaben. In den gehaltenen und austönenden, oft ganz eigen schönen Harmonien wie im raschesten parlandomäßigen Figurenwerk kleiner Noten ist das Zusammensin- gen von einer präcisen Genauigkeit, die wahrhaft, selbst nur vom technischen Standpunkt genommen, einzig ist. Aber es ist noch mehr da – der Gesang hat Seele, Ausdruck, – wie in der nordischen Heimat der Sängerinnen Sonnenblicke und düstere Nebelschatten rasch wechseln mögen, so springt der Ausdruck des Gesanges von fast ausgelassener Lustigkeit zu plötzlicher tiefer Melancholie und umgekehrt. In einer schönen Composition von Lindblad singen die Damen ein Fugato, wie es nur auf einer Orgel so fest und präcis gespielt werden könnte. Daß das Publicum aber insbesondere über die im leisesten Pianissimo verschwebenden Accorde völlig außer Fassung kam, ist ganz begreiflich. Die Stimme des zweiten Alto ist gerade hin phänomenal. In Laurins Lied: „Mits lif ar en vag“ („mein Leben ist eine Welle“) hörten wir zu unserem Staunen das große h, einen Ton, bei dem sich schon der Tenor für insolvent zu erklären pflegt. Tiefe Altos singen sonst nur bis zum kleinen e, also um eine volle Quarte höher. Dabei haben diese tiefen und tiefsten Töne nicht den Tenor- und nicht den Baßtimbre, sie haben die richtige Färbung der Altstimme und klingen wie eine anschlagende, tieftönende Glocke. Die vier Damen sind übrigens gleichsam eine praktische Opposition gegen die „temperirte“ Stimmung – sie haben nicht nach dem „temperirten“ Pianoforte, wo Cis und Des, Dis und Es u. s. w. in einen und denselben Topf geworfen werden, singen gelernt, sondern nach der Stimmgabel. Daher der wunderbare Wohllaut dieser Dreiklänge! Und daher die Ausbildung des Gehörs, daß die Sängerinnen zum ersten Anfang nicht erst des Rettungskastens des Tonart angebenden Klaviers benöthigen, sondern frei, gleichsam aus blauer Luft heraus, gleich den ersten Accord goldrein einsetzen. Die mittelalterlichen Singmeister waren am Ende doch nicht so sehr auf falschem Wege, wenn sie ihre Schüler nach dem „Monochord“ bildeten. Diese Schwedinnen haben unser Publicum so zu sagen im Sturme er- obert, sie haben Furore gemacht und ich denke, sie können es trotz der momenta- nen Springflut von Concerten ohne Bedenken noch mit einigen Soiréen wagen. Seit dem ersten Auftreten des „Florentiner Quartetts“ wüßten wir keinen ähnlich raschen und durchschlagenden Erfolg. Die vier Künstlerinnen – vier Stimmen und eine Seele – heißen „vom Sopran abwärts“ Hilda Wiedeberg, Anny Aberg, Maria Petersson und Wilhelmine Söderlund. Von den Zwischennummern erwähne ich bloß die „Aufforderung zum Tanz“, welche Frl. Marie Seydel recht gut spielte – den lapsus memoriae zum Schluß ent- schuldigen wir gern – über welche wir uns aber innerlichst erbosten. Herr Tausig, der „vom Schicksal ermordete Freund“ Herrn v. Bülows, hat nämlich C.  M. v.  Webers reizendes und wahrlich mehr als genügend brillantes Stück „für den Concertvortrag“ be-, ver- und zerarbeitet. Mir fiel dabei Gellerts Frau Orgon bei Lucindens Wunderkind ein: „und weil sie was verbessern muß, thut sie dem Kinde den Gefallen, macht ihm an beide Hände Krallen“. Gegen diese und dergleichen freche Uebermalungen kostbarer Originale protestiren wir ein für alle Mal! Hat