Seite - 427 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

427 März 1873 20 25 30 35 40 45 50 55 60 ten Wellen umspülen mögen, sie aber weder zu unterwaschen, noch zu erschüttern vermögen. Es erregt wahrhaft Erstaunen, wenn man sich Bach in dem sehr engen Cantorstübchen der Thomasschule in Leipzig vorstellt, wie er unbekümmert um Ruhm und Nachruhm, um Geldgewinn und Glanz, treu, schlicht, mit frommem, felsenfestem Glauben ein Monumentalwerk nach dem andern schafft, als Gelegen- heits-Kirchenmusik für diesen oder jenen Sonntag, für diese, jene Festzeit des Kir- chenjahres, wie er dann nach der, vermuthlich gar nicht glänzenden Aufführung mit den bescheidenen ausführenden Kräften, welche dem Thomaner-Cantor zur Verfügung standen, die Notenblätter ruhig zusammenbindet und gelassen in den Schrank legt, und wie es ihn nicht einmal irre macht, daß seine Herren Vorgesetz- ten mit seiner „allzu künstlichen“ Musik gar nicht zufrieden sind und ihm mit allerlei „schuldlos erlittenen Bekränkungen“, wie er sich in dem Promemoria an den sächsischen Hof ausdrückt – die Lehre praktisch einschärfen, das Leben eines wahren Christen wie er sei Kreuz und Trübsal. Und siehe! Nach mehr als hundert Jahren werden die Notenblätter aus den verstaubten Schränken herausgesucht, mit aller möglichen typographischen Pracht publicirt, in großartigen Aufführungen zu Gehör gebracht und Hunderte und Hunderte horchen entzückt und blicken voll Bewunderung, Verehrung und Liebe zu dem Meister empor. Und mehr als das; die Werke wirken geistig und sittlich kräftigend: es ist uns nach so einer Can- tate, als hätten wir eine Predigt voll Prophetenfeuers und apostolischer Kraft gehört, welche uns bis ins innerste Herz erschüttert und uns mit einer wahren Katharsis entläßt. Alles dieses gilt auch von der Oster-Cantate „Christ lag in Todesbanden“, wel- che wir im dritten Gesellschaftsconcert unter der meisterhaften Leitung Johannes Brahms’ zu hören bekamen. Es war ein guter und lobenswerther Gedanke, die Choralmelodie, aus welcher sich sämmtliche Sätze der Cantate entwickeln, in No- ten an die Spitze des gedruckten Programms zu setzen, – es war für jeden, welcher überhaupt der Textur eines Tonstückes zu folgen vermag, der Schlüssel zum Gan- zen. Mir, der ich mich jahrelang mit der Musik der alten Niederländer des 15. und 16.  Jahrhunderts befaßt habe, wurde die große innere Verwandtschaft Bachs mit diesen alten Meistern wieder so recht klar – eine Verwandtschaft, die zu Tage liegt und welche meines Wissens trotzdem bisher niemand der Mühe werth gefunden hat hervorzuheben. Die alten Niederländer und ihre Nachfolger, die Italiener der Palestrina-Zeit, bauten ihre großen geistlichen Musiken über gegebene Motive des Ritualgesanges – die Niederländer allerdings nicht selten auch über Melodien gangbarer Volkslieder. Das gewählte Ritualmotiv diente dann entweder in seiner vollen Gestalt als „Tenor“, d.  i. als cantus firmus, der mit contrapunktirenden Ge- genstimmen überbaut wurde, oder aber seine einzelnen Melodieglieder wurden thematisch-polyphon („fugenartig“ füge ich für musikalisch minder Bewanderte hinzu) verarbeitet. Josquins Messe über die Melodie des Pange lingua, Palestrina’s Messe Assumpta sind höchst bedeutende Beispiele dafür. Ganz ähnlich verfährt Bach – den wichtigen Unterschied nicht zu vergessen, daß zwischen ihm und je- nen Meistern eine zwei Jahrhunderte lange Entwicklungszeit der Musik liegt und daß die Musik eine andere Ausdrucksweise, ja einen andern Ausdruck angenom- men. Bei jenen alten katholischen Meistern geht Alles in einer Art allgemeinen