Seite - 428 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

428 März 1873 65 70 75 80 85 90 95 100 105 Aethers von Anbetung auf, in einem Lichtmeere, welches gleichsam die Localfarbe des Einzelnen überglänzt, aber auch alles Einzelne verklärt. Sie sind Diener des kirchlichen Ritus, ihre Musik begleitet die kirchliche Ceremonie. Jedes Wort um- faßt, wie zusammengedrängt, eine Welt von Empfindungen: Suscipe deprecationem nostram, Osanna, miserere nobis, dona nobis pacem. Anders der Protestant Bach. Fürs erste legt er, wie jene den gregorianischen Gesang, so den protestantischen Choral zu Grunde. Der eine wie der andere ist von Hause aus kirchlicher Volksgesang und also die innere Verwandtschaft im Grunde größer, als man denken sollte. Aber Bach zer- legt die Phasen der Empfindungen bis ins Einzelnste, er steigt in die tiefsten Tiefen der Seele hinab und belauscht dort ihre subjectivsten Regungen. Diese reiche Scala des Ausdrucks für Lust und Leid, für Wonne und Wehe hatte die Musik erst seit der Florentiner-Katastase von 1580 bis 1600 und da erst nach und nach gelernt. Wagners Dictum (nicht Richards, sondern seines Namensvetters im „Faust“) be- währte sich: „ein Komödiant könnt’ einen Pfarrer lehren“. Die Mittel des Aus- druckes für Seelenstimmungen, für den „Affetto“, wie die Italiener sagten, lernte die Musik im Theater, durch die favola in musica, wie sie ursprünglich hieß, oder die Oper, wie wir sagen. Die Kirchenmusik wurde jetzt nur allzu oft theatermäßig – beim Crucifixus wurde lamentirt und beim Resurrexit jubilirt, und wo sich weder lamentiren, noch jubiliren ließ, half eine Fuge aus der Noth, welche dem Ton werke wie ein uralt-ehrwürdiger Zopf hinten hing. Fausts Antwort auf jene Aeußerung Wagners bewährte sich ebenfalls. Es ist eigentlich nur consequent, wenn man neu- ester Zeit in Italien geradezu Stücke aus Donizetti’schen und Verdi’schen Opern als „Kirchenmusik“ aufführt. Aber eine Kirchenmusik kann den subjectiven Re- gungen der Zerknirschung, der tröstenden Hoffnung, der geistigen Freude jede Rechnung tragen, ohne irgendwie ans Opernhaus zu erinnern. Und wenn nun Bach, wie ich sagte, die Regungen der Seele aus den tiefsten Tiefen hervorholt, so muß man sagen, daß er hinwiederum sie heiligend in jenes Lichtmeer seiner gro- ßen Vorgänger emporhebt – und es ist, als verschwinde jeder Unterschied. Daher ist beim protestantischen Domchor in Berlin Palestrina so zu sagen tägliche Kost und fromme Katholiken falten bei Bachs Musik zu innigster Andacht angeregt die Hände. Es ist, als schwebe über den Häuptern beider Meister eine und dieselbe ewige Krone. Sind die Compositionen jener älteren Meister Bestandtheile des rituellen Ceremoniendienstes, so möchte ich Bachs Cantaten musikalische Homilien nen- nen. Der zu Grunde gelegte Choral stellt den Grundtext, das officiell Kirchliche vor, die Betrachtung, die Erwägung, die subjective Empfindung des Einzelnen findet in den Chören, in den eingefügten Arien Raum, sich auszusprechen. Oder aber Bach folgt seinem Choral Versstrophe nach Versstrophe; statt aber jede Stro- phe nach der Urmelodie absingen zu lassen, commentirt er gleichsam die Worte jeder Strophe musikalisch, wozu immer die Themen dienen müssen, welche ihm die gegebene Choralmelodie bietet. Diese letztere Form hat auch die Ostercantate, der unveränderte Choral tritt erst mit der letzten Versstrophe ein – wie ein Riese. Sätze, wie das eigen schauerlich ergreifende „Den Tod Niemand zwingen konnt“ – oder der folgende „Jesus Christus Gottes Sohn“, in dessen Begleitung völlig alle