Seite - 437 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

437 April 1873 30 35 40 45 50 55 60 65 70 elende Machwerke citirt. Wenn man sich auf solche Gewährsmänner verläßt, so kann die Sache nur schlimme Folgen haben – Ungenaues, Irriges. Es kann uns also nicht wundern, wenn drei Seiten später von Francesco Cavalli gesagt wird, er habe eigentlich „Colleto“ geheißen und sei in Venedig um 1600 geboren. Ist denn Caffi’s Storia della musica nella cappella di S.  Marco in Venezia ein so seltenes Buch, daß man sich dort über den in Crema geborenen Francesco Caletti-Bruni, nach seinem Gönner Federigo Cavalli insgemein Cavalli genannt, nicht Band 1, S.  269 bis 292, oder auch nur aus Fétis’ Biographie universelle de musiciens bessere Belehrung hätte holen können? Auf derselben Seite lesen wir: Carissimi sei „in der Nähe von Rom“ geboren. Ja wohl! in Marino; ist aber dieser Ort denn so unbekannt? Was soll man sagen, wenn es zu Ende derselben Pagina heißt: „der Chor sei bei Carissimi und Cavalli von keinem dramatischen Interes- se“. Ein Durchblick der von Chrysander neu herausgegebenen Oratorien Carissi- mi’s oder gleich der ersten Oper Cavalli’s „Le nozze di Peleo e di Tetide“ könnte das Gegentheil klar machen. Ist der gewaltige Sturmchor im „Jonas“ oder der Klage- chor um die Tochter Jephta’s bei Carissimi, ist der Dämonenchor in Cavalli’s „Jason“ etwa nicht von dramatischer Kraft und Bedeutung?! Glücklicher Weise haben diese zusammengesuchten Notizen mit der Hauptsache, der mährisch-schle- sischen Musikgeschichte, nichts zu thun. Mit in der That großem Fleiße ist nämlich das Buch aus allen möglichen Büchern, die dem Herrn Autor zugänglich waren und die er gewissenhaft citirt, wie ein Pasticcio zusammengeschrieben worden. Dieser Fleiß ist ohne Zweifel zu loben, aber es wäre dazu auch noch strenge Sichtung dieser oft sehr trübe fließen- den Quellen nöthig gewesen und der Herr Autor hat seinen Vormännern oft gar zu vertrauensvollen Glauben geschenkt. Kaum thut irgendwo strenge und streng- ste Kritik so sehr und so dringend noth, wie auf dem Gebiete der Musikgeschichte, wo gewisse Fabeln und grobe und kleine Irrthümer sich in nicht auszurottender Weise eingenistet zu haben scheinen. Sie werden ohne Ende von Einem zum Andern stets nachgesagt und nachgeschrieben; einem Hercules könnte diesem Augiasstalle gegenüber der Muth sinken. An Kritik hat es nun aber der Herr Autor – von diesem Vorwurf können wir ihn leider nicht freisprechen – zum Nachtheile seiner fleißigen Compilation fehlen lassen. Liest er etwas in Schillings Lexikon u. s. w., so ist es für ihn ohne weitere Prüfung eine ausgemachte Thatsache. Es muß auffallen, wenn wir S.  9 des An- hangs zu lesen bekommen: „Johann Joseph Fux, kaiserlicher Obercapellmeister in Wien, ein Böhme“ (!) u. s. w., da der Herr Autor an anderer Stelle doch Köchels treffliches Buch über diesen Musiker citirt und mit Recht belobt. Aber diese Bohe- misirung des alten Fux steht in einem Essay weiland Joh. Ritters v. Rittersberg „Ueber die Tonkunst in Böhmen“ (in Hormayrs Archiv, 1824) und Rittersberg hat es wieder aus dem Dlabacz’schen Lexikon und Dlabacz hat es Gott weiß woher. Dem Rittersberg’schen Opus hat das Buch die unverdiente Ehre eines Wiederab- drucks widerfahren lassen. Bei manchen Angaben wünschten wir die Quelle zu wissen, so wenn es S.  166 zu Ludwig Senfl heißt: „er habe zuerst für die Satzkunst feste Regeln entworfen“. Diese Thatsache ist von höchst überraschender Neuheit, – was sind die Bücher von Tinctoris, von Franchinus Gafor u. A. m., die alle vor