Seite - 442 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

442 April 1873 50 55 60 65 70 75 80 85 90 Was nun aber den „Orpheus“ Glucks betrifft, so freuen wir uns, daß wir ihn über- haupt gehört und zwar besser als je gehört haben. So wie es Aufführungen giebt, über welchen ein eigener Unstern zu walten scheint, so giebt es andere, denen ein eigener Glücksstern leuchtet. Eine solche war die des „Orpheus“. Wer noch nicht wissen sollte, welche Wirkung sich durch den bis ins Feinste beseelten, ausdrucks- vollen, dramatisch belebten Vortrag eines einfachen Recitativs hervorbringen läßt, hätte Frau Gomperz-Bettelheim in der Partie des Orpheus hören müssen. Es war eine in der That vollendet zu nennende Kunstleistung. Die Arie „Che farò senza Euridice“ haben wir nie schöner gehört und wir erinnern uns, sie von der Alboni gehört zu haben! Die Bitte an die Mächte des Orkus wurde nicht etwa schwächlich-sentimental, dafür aber mit so innigem und ergreifenden Ausdruck gesungen, daß wir es sehr wohl verstanden, wie die sonst nicht Rührbaren Rührung empfinden, die Uner- bittlichen der Bitte weichen mochten. Sogar die von Berton zu effectvollem Ab- schlusse des ersten Actes eingeflickte endlose Arie mit ihren Coloraturschnörkeln, welche zu Glucks Styl so übel paßt wie nur möglich und die mir immer vorkommt, als setze man einem griechischen Gotte eine Beutelperrücke auf, sogar dieses herz- lich unausstehliche Stück wurde uns durch den Vortrag der Sängerin genießbar. Dem vortrefflichen Orpheus stand Frau Wilt als Euridice würdig zur Seite – ob- wohl die Partie vom Componisten absichtlich in zweite Reihe gestellt ist. Die noch viel kleinere Partie des Amor sang Frl. v. Dillner sehr sorgsam und diese Sorgfalt, welche sie an eine gar nicht leichte Aufgabe, mit welcher gleichwohl nicht viel zu „machen“ ist, wendete, gereicht ihr ebenso zur Ehre wie das feine Verständniß für die Stellung im Ganzen, kraft welcher Amor neben Orfeo und Euridice mehr nur wie eine Ausfüllfigur erscheinen soll. Die Chöre griffen wie von der Aufgabe begeistert ein, das „No“ der Furien war eben so erschütternd, als die Abstufung ihrer sich allgemach mildernden Wuth, ihres zögernden Weichens aus- gezeichnet. Das Orchester hat Richard Wagner in einer gelegentlichen mündli- chen Aeußerung mit Recht ein „wunderbares“ genannt. Nicht in der wenig bedeu- tenden, noch etwas nach der altitalienischen Sinfonia aussehenden Ouverture lag seine höchste Leistung, wohl aber in der ahnungsvollen Einleitung des zweiten Actes, welche uns ein wahres Reich ewiger Nacht zu öffnen scheint, in dem wilden Sturm der Furientänze, wovon der von Gluck aus seinem Ballet „Don Juan“ herüber genommene furchtbar-gewaltige zu dem Prachtvollsten zählt, was wir je von dem Orchester gehört, und auch einen Sturm von Beifall hervorrief, in dem träumerischen Satze des mild-traurigen Flötensolo, in dem wunderzarten Ton- gewebe, welches den Eintritt des Orpheus in den Sitz ewig stillen Friedens, ins Elysium so zauberhaft malt. Erschütternd klang von der gewaltigen Masse der Saiteninstrumente das „rauhe Bellen des Cerberus“. Das Feuer und die sichtliche Freude am Werke, womit Herbeck die Auffüh- rung leitete, theilte sich den Ausführenden mit und wirkte von dort aus zündend auf das Publicum. Wir haben letzteres nicht eben oft in so wirklich gehobener Stimmung gesehen. Was Gluck machen kann, wenn er so aufgeführt wird, haben wir diesmal gesehen, aber freilich: so muß er aufgeführt werden. Hätten wir für die Rolle des Orpheus eine zweite Bettelheim, so wäre unbedingt anzurathen, das