Seite - 447 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

447 April 1873 55 60 65 70 75 80 85 90 95 lich durchdachte Rachepläne malen sollen, zu hören, ohne einigen Lachreiz zu empfinden. Wie populär war aber einst das „Wenn mir dein Auge strahlet“, das „Ich war, wenn ich erwachte“, oder das Frauenquartett mit dem Schikaneders wür- digen Text: „Kind, willst du ruhig schlafen, so folge meinem Brauch und tändle wie mit Affen, mit den Männern auch.“ – Der moderne Componist, welcher seine Lorbeeren für absolut unverwelkbar hält, sollte die Partitur des „Opferfestes“ auf seinen Schreibtisch legen, wie weiland Eremiten einen Todtenkopf als heilsames „Memento mori“ auf ihr Betpult zu legen pflegten. Das dritte Concert der Wiener Singakademie unter Herrn Rudolf Wein- wurms Leitung brachte von geistlicher Musik Michael Haydns Chor „Tenebræ factæ sunt“, dessen fein detaillirter, sehr präciser Vortrag die schöne, würdige Composition in ihrem vollen Werthe zur Geltung brachte, und Allegri’s berühm- tes „Miserere“, für welches, wie weiland für den alten Götz von Berlichingen Heilbronn, so Wien „ein verhängnißvoller Ort“ ist. Weiland unter Leopold  I. wur- de es geradezu Gegenstand diplomatischen Schriftenwechsels, als die Composi- tion, von der es hieß, sie wirke in Rom Mirakel, sich in Wien gar nicht wunderthä- tig erweisen wollte. Der zur Rechenschaft gezogene päpstliche Capellmeister antwortete im Sinne Scanderbegs, als der Sultan sich beklagte, der Held habe ihm nicht das richtige Schwert gesendet. „Das richtige Schwert“, meinte Scanderbeg, „habe ich geschickt, aber den richtigen Arm habe ich nicht mitschicken können.“ Hier nämlich die Sänger der Sixtina mit ihrem traditionellen Vortrag, dessen Traditionen sogar noch jetzt, trotz des tiefen Verfalles der Sängercapelle, in Rom fortleben, – ich wenigstens darf den Vortrag des „Miserere“, wie ich es 1868 in der sixtinischen Capelle am Charfreitag gehört, zu meinen besten musikalischen Erin- nerungen zählen. Geht einmal in der Osterwoche ein Vergnügungszug nach Rom, so setze sich die Singakademie in corpore auf und höre sich die Sache an Ort und Stelle an. Und dann: „gehet hin und thuet desgleichen!“ Herr Ignaz Brüll trat statt des verhinderten Prof. Epstein als Ersatzmann ein – und zwar mit Beethovens nur zweisätziger, aber gewaltiger Sonate op.  111 – für den Pianisten sicher eine der größ- ten Aufgaben. Wie er diese Aufgabe gelöst, beweist das laute, herzliche „Vortreff- lich“, welches ihm der als Zuhörer im Publico sitzende Liszt zurief. Herr Junck spielte brav und solid eine Violinsonate von Händel. Der Gedanke, alle Gesänge Schuberts, welche er zu Scotts „Fräulein vom See“ componirt, nach einander sin- gen zu lassen, war originell, in anderer Programmumgebung würde er glücklicher gewirkt haben. Von den Solisten sagte uns Herr Buchholz mit dem mannhaften Vortrage des „Liedes des gefangenen Jägers“ am besten zu. Die junge Dame, welcher das „Ave Maria“ zugefallen, wird besser thun, einstweilen noch in der Masse des Chores zu verschwinden und erst dann wieder hervor- und in den Vor- dergrund zu treten, bis fortgesetzte Studien sie solchen Aufgaben werden gewach- sen sein lassen. Recht würdig feierte der Wiener Cäcilien-Verein die Charwoche durch eine gelungene Aufführung der Passionsmusik von Heinrich Schütz. Dieser Compo- nist, geboren 1585 zu Kösteritz im Voigtlande, Zögling der venezianischen Tonset- zerschule durch seinen Lehrer Johannes Gabrieli, ist eine der anziehendsten Künst- lergestalten jener großen und reichen Kunstzeit. Er ist zugleich der Ahnherr aller