Seite - 448 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

448 April 1873 100 105 110 115 120 125 130 135 140 deutschen Operncomponisten, denn 1627 setzte er Ottaviano Rinuccini’s 1594 für Florenz von Jacopo Peri componirte „Dafne“ nach der Uebersetzung Martin Opitz’ von Boberfeld zur Hochzeitsfeier der Schwester seines damaligen Gebieters, des Churfürsten von Sachsen, mit dem Landgrafen von Hessen in Musik – leider ist die Composition für uns verloren – es wäre anziehend zu sehen, inwieweit er sich dem neuen Florentiner Styl anschloß, welcher damals auch in Deutschland Sensation machte; wie denn auch der gleichzeitige Autor des Syntagma, Prätorius, verwundert darauf hinweist, wie „sonderlich in Italia auß der Massen viel musika- lische Compositiones und Gesänge, so gar uff ein anderer Art, Manier und Weise, als vor der Zeit auffgesetzet und mit ihren Applicationibus an Tag kommen, zum Truck verfertigt werden“. Schütz reiste 1628 sogar noch einmal nach Venedig, um den neuen Styl durch dessen genialsten Vertreter Claudio Monteverde kennen zu lernen. Kein Wunder, wenn in seinen Passionsmusiken, aus denen die, welche wir hörten, geschickt zusammengesetzt worden, ein wahrhaft dramatischer Zug lebt – fast möchte ich sagen: mehr als bei J.  S. Bach, trotz der sehr bescheidenen Mittel. Gleich das erste Chorsätzchen „Ja nicht auf das Fest“ ist von überraschender Wahr- heit und der Chor „Laß ihn kreuzigen“, in welchem S.  Bach das welterlösende Mysterium betont, als käme der Urtheilsspruch vom Himmel, wird bei Schütz, ganz wie es Mendelssohn will, zum Wuthgeschrei einer tobenden Menge. Die Soli gehören nicht dem Florentiner stile rappresentativo an, sie klingen eher kirch- lich-psalmodirend, an feierlichen Stellen, z. B. bei der Einsetzung der Eucharistie, nehmen sie den Ton des deutschen Chorals an. Die motettenartigen Einleitungs- und Schlußchöre haben theilweise auch den Charakter des Chorals, häufiger aber tritt hier der edle Schüler Giovanni Gabrieli’s hervor, es wird uns ganz „venezia- nisch“ dabei. Die falschen Zeugen singen, was sie seither bis auf Mendelssohns „Paulus“ immer gethan, in kanonischer Imitation, in manchen Chören zeigt sich der Meister des Contrapunkts, wie bei dem: „Andern hat er geholfen“ u. s. w. Reine Empfindung, innige Andacht, großer Schönheitssinn sprechen aus dem Ganzen, und da unsere Zeit begreifen gelernt hat, daß die „große“ und die „kleine Passion“ von A.  Dürer nicht bloß holzgeschnittene Curiosa aus den Zeiten einer „kind- lich-unentwickelten“ Kunst sind, so wird sie wohl auch für Heinrich Schütz’ „mu- sikalische Passion“ ein ähnlich gerechtes Urtheil haben. Wir danken dem Cäcilien- Verein und namentlich den Herren Böhm, Maaß, Bauer, Fürchtgott und Dr.  Hausleithner für den wahrhaft erbauenden Genuß! Von einer Passionsmusik zu einem Patti-Concert ist der Uebergang etwas kühn – der Ostersonntag brachte uns ein solches, zum „Besten der Armen Wiens“ und zum Vergnügen der Reichen Wiens. Was sollen wir sagen, das wir nicht schon gesagt hätten? Das Programm zählte zu den musikalischen mixed-pickles, also zu den Delicatessen für Feinschmecker. Der ersten Arie aus Glucks „Orfeo“, gesun- gen von Signora Marchisio, folgte Rossini’s Arie der Rosina, mit ungeheurem Bei- fall und da capo von der Patti vorgetragen, an die (falsche) Stradella-Arie des Signor Graziani schloß sich Gounods Giulietten-Walzer, abermals von Adelina Patti. Das Publicum, wenigstens dessen „schönere Hälfte“, prangte in Toiletten, an denen der Freund der Eleganz und des Reichthums seine Freude haben konnte, und „strahlte in Diamantenpracht“ – kurz es war brillant.