Seite - 452 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

452 April 1873 15 20 25 30 35 40 45 50 55 Von der Vorstellung sei nur bemerkt, daß sie in den Hauptpartien eine treffliche war – Dinorah, Patti; Hoel, Graziani; Corentin, Marini; der junge Hirt, Marchisio. Signora Patti’s Dinorah hat etwas von einer Elfe; die unbeschreibliche Anmuth der Künstlerin und ein gewisses kindlich-holdes Wesen, wie es gelegentlich auch in ihren anderen Rollen hervortritt, milderte das peinlich-krankhaft Ueberreizte, wie es Meyerbeers „Dinorah“ nach der ganzen Anlage und Zeichnung dieses dramati- schen Charakters hat. Was den Gesang betrifft, so waren die einfach empfindungs- vollen Stellen, wie das Wiegen- und Schlummerliedchen, gleich zu Anfang so schön und rührend, als der Vortrag der Romanze im zweiten Act – beiläufig gesagt einer Nummer, in welcher Meyerbeer gezeigt hat, was er sein konnte – zugleich unheim- lich und unwiderstehlich anziehend; man konnte sich an Loreley erinnern. In den Brillantstücken der Partie, dem concertanten Duo mit Corentins hier zur Clarinette veredelten Dudelsack, dem weltberühmten Schattentanz u. s. w. kommt mir Meyerbeer vor, wie ein Juwelier, welcher einer Lieblingstochter bei festlichen Gelegenheiten am liebsten seinen ganzen Laden an den Leib hängen möchte. Isabella im „Robert“ und Margaretha in den „Hugenotten“ sind recht bescheidene Personen gegen diese Bretagner Ziegenhirtin. Was nun die Patti gera- de hierin leistete, kann sich vorstellen, wer sie kennt. Der Grundzug ihrer ganzen künstlerischen und sonstigen Persönlichkeit, jene wunderbar gewinnende An- muth, deren wir vorhin schon gedacht, giebt auch ihren allerglänzendsten Bra- vourpassagen einen ganz eigenen, unbeschreiblichen Reiz – dabei haben wir auch noch das sehr angenehme Gefühl der Sicherheit; wir denken gar nicht daran, als könne der Künstlerin je ein Ton versagen oder mißglücken. Der Schattentanz, einer der bizarrsten Einfälle in dem überhaupt höchst bizarren Werke, gewann durch die Patti einen unbeschreiblichen Reiz, wie wir ihn früher nie bei dieser Scene empfunden. Während bei nicht wenigen Dinorahs der Schatten an der Felsenwand sich geberdet wie eine wahnsinnig gewordene Fledermaus und nichts ist wie die Cari- catur seiner Besitzerin (seit Peter Schlemihl kann man den Schatten unter die Be- sitzthümer rechnen), war bei der Patti selbst in den Bewegungen des Schatten- phantoms eine merkwürdige Grazie – ordentlich liebenswürdig war die tanzende Silhouette, und Aloysius Gonzaga, der einmal im Pfänderspiel aus Gewissensscru- peln den Schatten einer Dame nicht küssen wollte, wäre hier vermuthlich davon- gelaufen. Das kindliche und kindische Schelten Dinorahs gegen die Schattenge- stalt hatte etwas Rührendes, und in der Singstunde, welche Dinorah der vermeinten Gefährtin giebt, waren die Echoeffecte von zauberhaftem Wohllaut, so wie vorher und dann zum Schlusse die brillanten Passagen wahrhaft blendend wirkten. Als nach dem glänzenden Triller auf dem hohen As zuletzt das dreigestrichene Des in siegesgewisser Sicherheit den Gesang und die Scene schloß, brach ein Applaus los, gegen den selbst die Wagner-Orkane des vorigen Mai, welche wir bisher in der Einfalt unseres Herzens für den Gipfel des Möglichen gehalten, ver- stummen müssen. Jetzt ging der Blumenregen los, oder vielmehr die Blumensünd- flut. Massenweise hagelten die kleineren (nämlich relativ kleineren) Bouquets auf die Bühne herunter, Helfershelfer stürzten aus den Coulissen und halfen der Patti