Seite - 465 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

465 Juni 1873 235 240 245 250 255 260 265 270 275 musikalische Komik ein Talent, welches außerordentlich zu heißen verdient. Z. B. Das allbekannte Gedicht Chamisso’s vom „Zopf“ ist in der That ganz genial com- ponirt. Unbegreiflich, daß die Kritik und die Welt diesen Arbeiten gegenüber jene vis inertiæ, mit welcher so oft neue Tonsetzer und neue Tonwerke hart zu kämpfen haben, in solchem Grade bewies! Als der jetzige Chef das Verlagsgeschäft übernahm, verlautete es, er beabsich- tige eine gesteigerte Thätigkeit des letzteren. Die seither verflossene Zeit ist nur erst noch kurz; trotzdem finden wir unter den von Friedrich Schreiber zur Weltaus- stellung gebrachten Verlagsartikeln schon eine Reihe von Novitäten, daneben Reproductionen früher erschienener, aber vergriffen gewesener Artikel. Unter letz- teren begrüßen wir mit besonderer Freude das elegante Heft, welches (als Erbstü- cke aus Mecchetti’s Verlag) Mendelssohns reizende, jugendfrische Capricen op.  16, das lebhafte, brillante Rondo capriccioso op.  14, und die musikalisch sehr werth- vollen Variations sérieuses op.  54 enthielt, nebst der (geringeren) Phantasie über das irländische Lied „the last rose“. Als für den Lehrer sehr werthvoll erfreuen uns zwei Hefte von Karl Czerny – man weiß, welch’ trefflicher musikalischer Pädagog er, welcher unter anderen Liszt zu seinen Schülern zählt, gewesen – „Die Künstler- bahn des Pianisten“, aber nach modernen Bedürfnissen umgearbeitet und ergänzt von einem der geistvollsten und tüchtigsten Lehrer unserer Zeit, von Louis Köhler. In zwei mäßigen Heften finden wir den ganzen Inhalt und Gehalt großer und kostspieliger Klavierschulen wie in nuce beisammen. Die musikalisch-pädagogi- schen Traditionen weiland Diabelli’s setzen sich in hübschen, instructiven Stücken für das Pianoforte zu vier Händen von Gustav König fort. Evers erfreut uns mit poetischen Frühlingsliedern (Lieder ohne Worte, nach Stimmungen Lenau’scher Poesien) – von Liszt finden wir die glänzenden und geistreichen Paraphrasen Schubert’scher Walzer, welche unter dem Namen der Soirées de Vienne berühmt geworden. Sehr artige, originelle Scherze sind die „musikalischen Briefe“ von R.  Genée, d. h. Tonstücke fürs Pianoforte, welche musikalisch den Style épistolaire in Erinne- rung bringen sollen, sogar mit Anrede und Schluß – etwa wie: „theurer Freund!“ und „der ich verbleibe!“ u. s. w. Die Freunde der modernen Operette werden sich an dem eleganten Klavierauszug der „Javotte“ von Jonas erfreuen. Ganz charmant ist das „erste Wiener Tanz-Taschen-Album“ (der Titel ist fast größer als das Büchelchen), es enthält Tänze der Wiener tanzmusikalischen Horatier und Curiatier, des „großen Wiener Dreiklangs“ Joh. Strauß jun., Joseph Strauß, Eduard Strauß – darunter die weltberühmte „schöne blaue Donau“. Instructives für die Violine bieten die Hefte des bewährten Meisters Jansa. Otto Bach hat ein angefangenes „kleines Rondo“ Mozarts zu Ende geschrieben und bringt Lieder nach Schäffels „Trompeter von Säckingen“, welcher neuestens die Zuflucht der Liedercomponisten zu werden anfängt. Die Kirchenmusik ist durch eine sehr schön ausgestattete Messe von Jansa und durch ein Offertorium von H. Proch repräsentirt. Wir können natürlich nicht jedes Einzelne hier erwäh- nen, jedenfalls aber sehen wir der ferneren Thätigkeit des Verlages mit erhöhter Theilnahme entgegen. A. W. Ambros.