Seite - 469 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

469 Juni 1873 55 60 65 70 75 80 85 90 95 so erstaunen wir. Vor dem Meister der „Maulbronner Fuge“ nehmen wir den Hut ab. Wir finden eine ähnliche Verbindung tiefsinniger Kunst und aus vollem Halse lachender Fröhlichkeit nur in einigen Arbeiten der alten Niederländer, wie Loyset Compère, der deutschen Liedermeister des 16.  Jahrhunderts, bei denen die „Mar- tinsgans“ und das Glas Wein keine kleinere Rolle spielt, als in jener Maulbronner Fuge und bei dem großen Carissimi, welcher es eben so gut versteht uns mit seiner „Filia Jeptha“ zu Thränen zu rühren, als uns mit seinem „Testamentum Asini“ zu lautem Gelächter zu reizen. Unter den übrigen Tonsetzern des Haslinger’schen Verlags möchten wir (da es unmöglich bleibt, alles Einzelne durchzunehmen) insbesondere auf Karl Gerber und Julius v. Beliczay hinweisen. Gerbers elegante Klavierstücke verrathen überall den wohlgeschulten, tüchtigen Musiker, sie sind höchst klaviermäßig, brillant, technisch nicht zu schwer und haben poetischen Gehalt. Daß ein Musiker, dessen tägliches Brot Bachs und Beethovens Werke sind, sich musikalisch im Salon mit so viel eleganter Leichtigkeit und so viel Weltton zu bewegen weiß, kann nur über- raschen. Besonders lieb sind uns die kleinen Tondichtungen der „Salzburger Ton- bilder“. Aus den Stücken des v.  Beliczay spricht ein liebenswürdiges Talent, eine stille Solidität und eine gewisse anspruchlose Bescheidenheit, die uns den Compo- nisten, einen jungen Ungar, sehr werth gemacht hat. Es sind ganz hübsche, rein und innig empfundene Kirchenstücke, wohlklingende Klaviersachen und dank- bare, melodiöse Lieder, unter denen uns besonders die Ghaselen nach Platen, op.  7, und das Liederheft, op.  8, zugesagt haben. Daß neben diesen und ähnlichen Wer- ken unter den Verlagssachen auch lustige Tanzmusik mit dareinklingelt, ist ganz gut. Der „Wiener Walzer“ ist ja eine Specialität, über welche sich, wie bekannt, auch Richard Wagner mit warmer Anerkennung ausgesprochen hat. Wir erinnern uns nicht gleich, welcher Papst es war, der, als man ihm in einer Canonisationsangelegenheit eine ungewöhnlich edle und heroische That des zu Canonisirenden erzählt hatte, mit lauter Stimme ausrief: „erigantur illi altaria!“ Der Kunstfreund, welchem die Musik etwas mehr ist als bloßer Handelsartikel und welcher von ihr mehr verlangt, als daß sie, in Ermanglung eines Besseren, gelegentlich eine Halbstunde mit Amusement ausfülle, wird, wenn er den Verlags- katalog von J.  P. Gotthard und dessen Weltausstellungsartikel durchsieht, ver- sucht sein, gleichfalls zu rufen: erigantur u. s. w. Wahrlich, man bekommt für den Mann Achtung, wenn man sieht, was er verlegt, d. h. in seinem Verlage erscheinen läßt, denn nicht wenige seiner Collegen „verlegen“ Manuscripte derartigen Inhalts gerne im andern Sinne des Wortes, nämlich so, daß sie sie gar nicht wieder finden. Wer Partiturausgaben der Arbeiten jüngerer Tonsetzer, welche beide, nämlich Par- tituren und Tonsetzer, ihren Weg durch die Welt machen wollen, ans Licht treten läßt, der giebt zu erkennen, daß er noch andere und höhere Rücksichten kennt, als nur bei einer Novität sofort Verlagskosten nebst Gewinn hereinzubringen. Die jungen Tonsetzer aber mögen dankbar sein, denn sonst befinden sie sich oft genug in einem bösen Dilemma. „Sie müssen erst dem Publico bekannt sein, Ihre Arbei- ten müssen einige Verbreitung haben, ehe ich es wagen kann, etwas von Ihnen zu drucken“, sagt achselzuckend der Verleger, – das Publicum aber meint: „ehe die Sachen nicht gedruckt sind, kenne ich sie nicht, und ich merke mir nur Namen,