Seite - 478 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

478 Juli 1873 105 110 115 120 125 130 135 140 145 Den weitaus anziehendsten Theil des neuen Schriftchens bilden die Erläuterungen über die architektonische Anlage und technische Einrichtung des neuen Bühnen- spielhauses. Der Punkt, von dem unverkennbar Alles ausgeht, ist die Verwirkli- chung eines Lieblingsgedankens Wagners: Unsichtbarkeit des Orchesters. Die zu diesem Zwecke nöthige Anlage bedingt es, daß die Logen im Zuschauer- raum beseitigt werden müssen, nach der andern Richtung hin bekommt die Büh- ne durch ein zweites, ja durch ein drittes Proscenium eine wesentlich geänderte Gestalt. Die Beseitigung der Logen ändert wiederum die ganze Anlage des Zuschauer- raums – die Galerien entfallen auch und die minder bemittelten Zuseher werden von der „dunstigen Vogelperspektive“ (sic!) befreit, unter der sie in den nach bishe- riger Art eingerichteten Theatern zu leiden hatten. Aehnlich den antiken Theatern steigen Stufenreihen über einander auf – der Anblick des beigegebenen Aufrisses erinnert unwillkürlich an das Theater in Pompeji. Da aber der Halbcirkel der an- tiken Anlage nicht unbedingt herübergenommen werden konnte, so wurden rechts und links Seitenwände nöthig, deren kahle Leerheit für Wagner und dessen Archi- tekten anfangs Verlegenheiten bereitete. Sie ist beseitigt durch schönes Säulen- werk, das sich an die schräg ansteigenden Seitenränder der Sitze anschließt und coulissenartige Räume zwischen sich nimmt, welche auch wieder zu praktischen Zwecken benützt werden. Die perspectivische Anordnung der Proscenien läßt Wagner die Hoffnung großer Wirkung hegen; durch die perspectivisch scheinbar größere Entfernung werden die Gestalten der Darsteller für die Augen der Zu- schauer eine übermenschliche Größe annehmen (ganz richtig! man erinnere sich der scheinbaren Kolossalstatue im Hofe des Palastes Spada zu Rom, die in Wahr- heit nur Puppengröße hat – die Täuschung des Blickes wird dort durch ähnliche Mittel bewirkt); den Raum, in welchem das Orchester den Blicken der Zuschauer, nicht aber jenen der Darsteller entzogen wird, nennt Wagner, originell und seltsam genug, „den mystischen Abgrund“. Ob das Orchester aus dem mystischen Abgrund herauf auch akustisch gut töne, ob sich der Schall nicht ferner in dem Winkelwerk jener Säulencoulissen verschlagen werde – diese Zweifel fallen Wagner nicht im Traume ein. Vielleicht, daß ihn der Erfolg glänzend rechtfertigen wird. Er drückt sich in seiner Weise aus: „Der Erfolg dieser Anordnung dürfte wohl allein genügen, um von der unver- gleichlichen Wirkung des nun eingetretenen Verhältnisses des Zuschauers zu dem scenischen Bilde eine Vorstellung zu geben. Jener befindet sich jetzt, sobald er sei- nen Sitz eingenommen hat, recht eigentlich in einem Theatron, d. h. einem Rau- me, der für nichts Anderes berechnet ist, als darin zu schauen, und zwar dorthin, wohin seine Stelle ihn weist. Zwischen ihm und dem zu schauenden Bilde befindet sich nichts deutlich Wahrnehmbares“ (beiläufig: bleiben die in den vorderen Rei- hen seßhaften Zuschauer für den Hintermann etwa unsichtbar?), „sondern nur eine zwischen den beiden Proscenien durch architektonische Vermittlung gleich- sam in Schwebe erhaltene Entfernung, welche das durch sie ihm entrückte Bild in der Unnahbarkeit einer Traumerscheinung zeigt, während die aus dem mystischen Abgrunde geisterhaft erklingende Musik gleich den unter dem Sitze der Pythia dem heiligen Urschooße Gaia’s entsteigenden Dämpfen (!) ihn in jenen begeister-