Seite - 482 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

482 Juli 1873 55 60 65 70 75 80 85 90 95 „Faust“ die vielleicht am meisten commentirte ist. Aus den „Faust“- und „Hamlet“- Commentaren kann man um beide Werke einen förmlichen Wall aufthürmen. Der Wall hat aber nicht gehindert, daß ihn die Librettomacher überstiegen und sich an den Werken vergriffen. Für uns in Deutschland ist „Hamlet“ eines jener Werke, welche uns in Fleisch und Blut übergegangen, – wie den „Faust“ wissen wir ihn nahezu auswendig, wie aus „Faust“ sind auch aus „Hamlet“ einzelne Stellen Sprüchwörter geworden, welche in jedermanns Mund sind. Was ist den Franzosen Shakespeare? Was ist ihnen Hamlet, was Ophelia, „daß sie um sie weinen sollten?“ Der sauvage ivre Voltaire’s – ein Ausdruck, den er bekanntlich gerade mit Bezie- hung auf „Hamlet“ von Shakespeare brauchte, ist, wie es scheint, noch immer nicht ganz vergessen. Die Gestalt des melancholischen Dänenprinzen steht in wunderbarer Zeich- nung vor uns. Dem in Wittenberg von Philosophie genährten Geiste, dem Grüb- ler, dem Zweifler, gestaltet sich Alles, was an ihn herantritt, zum Object eines dia- lektischen Processes und wo er handeln sollte, kommt er vor lauter Denken nicht dazu. Der Tod seines Vaters, die zweite Ehe der Mutter lasten schwer auf ihm; er ahnt den Zusammenhang. Der Geist seines Vaters erscheint ihm, fordert Rache – Hamlet greift nicht nach dem Schwerte, sondern nach der Schreibtafel, um sich die Notiz einzuzeichnen, „daß man lächeln, immer lächeln und dabei doch ein Schurke sein könne“. Er hat vor lauter tiefsinniger Gedankenarbeit sogar eine ent- schiedene Antipathie gegen alles thätige Zugreifen. Als der Zufall das Leben des verbrecherischen Claudius in seine Hand giebt, athmet er völlig auf, als er bei Er- wägung der weiteren Consequenzen der That für Claudius – wohlgemerkt der Consequenzen im Jenseits – einen plausiblen Vorwand findet, die Sache vorläufig auf sich beruhen zu lassen. Seine Waffen sind Epigramme, Sarkasmen, bissige Be- merkungen. Seine Rache an Rosenkranz und Güldenstern, zwei armseligen Jun- kern und Schluckern, welche der Mühe gar nicht werth sind und die er immerhin laufen lassen konnte, führt er durch eine seltsam und ungeschickt genug compli- cirte Maschinerie aus. Als Ophelia, die er doch nach seiner Art geliebt, begraben werden soll, hat er Stimmung und Fassung genug, über Todtenschädel auf dem Friedhof tiefsinnige philosophische und naturwissenschaftliche Betrachtungen zu machen, ja letztere in ein Epigramm einzukleiden. Als er sich einmal zum Handeln aufrafft, trifft er den Unrechten, Polonius statt des Königs. Seine eigene tödtliche Verwundung und daß er endlich den Stiefvater todtsticht, sieht Alles beinahe wie plumper Zufall aus. Er sieht den Geist des Vaters bei zwei verschiedenen Gelegenheiten und ist so sehr Skeptiker, daß er von „Sein oder Nichtsein“ und vom „unbekannten Lande“ redet, „aus dem kein Wanderer wiederkehrt“, als er den Gedanken des Selbst- mordes in der Seele wälzt – natürlich um sich ihn wieder hinauszudialektisiren. Ophelia liebt er so gut wie nicht, – sein Brieflein „Zweifle an der Sonne Klarheit“ u. s. w. und alles Folgende ist eben ein flüchtiges Galanteriespiel, mit welchem er sich von seiner strengen philosophischen Kopfarbeit erholt, – die Scherze, welche er sich während des Schauspiels gegen Ophelia erlaubt, sind bitterer Hohn, ab- sichtliche grobe Beleidigungen. Ophelia’s Neigung für ihn ist dagegen eine wahre und wirkliche, aber von der Liebe einer Julie gründlich verschieden. Ueber dem