Seite - 483 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

483 Juli 1873 100 105 110 115 120 125 130 135 140 ganzen Stücke schwebt eine frostige, nordische Nebelatmosphäre, ein nächtliches Düster voll Grauen. Ist das nun ein Opernstoff? Was bewog die Herren Michel Carré und Jules Barbier, gerade nach ihm zu greifen? Wohl zunächst einige Momente, die für den Componisten dankbar sind; so die in der französischen großen Oper unvermeid- liche entrée de la cour, die sich sehr gut und sogar wiederholt anbringen ließ, die nächtliche Geisterscene auf der Terrasse, das Schauspiel im Schauspiel (als Panto- mime), Ophelia’s Tod mit herkömmlicher Opernapotheose und (gleich dem Tode Selicas in der „Africanerin“) von verklärten Brummstimmen aus dem Jenseits be- gleitet. Man erzählt wohl, beim Tode sehr frommer Menschen sei manchmal Musik hörbar geworden, ich zweifle aber sehr, daß es Brummstimmen gewesen sein möchten. Hamlet wird zum schmachtenden, wenn gleich etwas melancholi- schen Opernliebhaber, wie nur je einer Cantilenen gesungen – Ophelia wird zur Coloraturprinzessin im französischen Operngeschmack – und so weiter. Glänzen- de Ballette sind eingeschaltet, wo es gehen und nicht gehen will. Mir fällt bei letzteren wirklich der Passus ein, mit dem wohl Theaterprincipale weiland ihre Haupt- und Staatsactionen ankündigten und anpriesen: „weilen so viele jämmer- liche und trauerige Vorstellungen den Augen der Zuschauer verdrüßlich fallen möchten, wird Hanswurst vor einige Zerstreuung sorgen“. Statt des düsteren Nachtstückes Shakespeare’s sehen wir eine brillante Oper. Ambroise Thomas hat sich in Deutschland durch seine „Mignon“ Popularität und Credit verschafft, was natürlich dem „Hamlet“ recht wesentlich zustattenkommt. Berühmte Sängerin- nen, wie die blonde Nielsson fanden in der Rolle der Ophelia eine Aufgabe, an deren Lösung sie mit entschiedener Vorliebe gingen. Die Partitur selbst enthält Manches, das nicht bloß von Mignons Gnaden lebt – Glänzendes, Dankbares, Melodien, Motive, Phrasen wie das Publicum sie liebt, da es sie schon kennt, ehe sie noch angefangen, modernste Effectmittel (die beliebten Quartsextaccorde- Ueberraschungen, kühnste harmonische Rückungen, z. B. nach zwei Tacten Fis-dur unvermittelt zwei Tacte C-dur zu Anfang des vierten Actes), Instrumen- tal-Glanzstellen – oft mit der obligaten französischen Harfe – leichtgeschürzte Balletmusik, etwas trivial leider – unter Anderen eine Valse-Mazurke: im „Hamlet“!! – Geistermusik mit Tremoli, Posaunen und chromatischem Winds- geheul, gelegentlich etwas überraschend Schönes, wie die wundersam innige schwedische Ballade „Pâle et blonde dort sous l’eau profonde“, die vielleicht ein wirk- liches schwedisches Volkslied ist, wenigstens ganz den Charakter eines solchen hat, Fanfaren, Märsche u. s. w. u. s. w. Wir kennen Thomas von seiner – entschieden höher stehenden – „Mignon“ her, als ein anmuthiges, zum Zierlichen neigendes, Brillanteffecte liebendes Talent. Wo sich eine Situation seines „Hamlet“ auf der Stimmungshöhe seiner „Mignon“ hält, bringt er der früheren Oper Ebenbürtiges. Wirkliche tragische Kraft aber bleibt ihm versagt. Verstärkung und Steigerung des äußeren Tonapparates ist noch keine wirkliche Vergrößerung des Styls. Da Meyerbeer in Paris noch immer für den Meister des „vrai sublime“ gilt, so ist es begreiflich, daß sich Thomas an ihn hält, wenn es in höhere Regionen, oder umgekehrt, wenn es in die Tiefe gehen soll. Ueberall aber weiß sich Thomas als gebildeter Mann und als gebildeter Musiker