Seite - 484 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

484 Juli 1873 145 150 155 160 165 170 175 180 185 auszudrücken. Franzose ist er durch und durch, obwohl er deutlich genug erken- nen läßt, daß er auch die deutschen und italienischen Meister seiner Kunst sehr wohl kennt. Vom Recitativ, diesem unschätzbaren Kunstmittel, welches von der neuesten deutschen und italienischen Schule sehr verkehrter Weise aufgegeben worden, macht Thomas gerne, doch nicht eben glücklich Gebrauch – seine Recita- tive stolpern ziemlich steifbeinig einher und halten mit dem beseelten Leben eines französischen Recitativs von Gluck, ja selbst mit dem alten Jean Baptiste Lully keinen Vergleich aus. Seine musikalische Phraseologie zeichnet sich durch nichts weniger aus als durch Neuheit. Verfolgen wir in raschem Ueberblick die Hauptmomente der Oper. Keine Ouverture; das kurze Instrumentalvorspiel deutet die musikalischen Motive der Geisterscene an und wir können schon hier vorläufig, wie jener Prinz im Mähr- chen, „das Gruseln lernen“. In gedenkbar stärkstem Gegensatz geht das Nacht- stück in ein Prachtstück über, Festmarsch, Chor, entrée de la cour. (Aus Es-moll plötzlich H-dur, vermittelt durch B-Ais; wir schreiben diese Bemerkung den Musikern zuliebe her.) Trompetenfanfaren, der König tritt ein, die Königin, später Hamlet, angekündigt durch ein kurzes, melancholisches Vorspiel. Dann ein opernhaftes, langes Liebesduett zwischen Hamlet und Ophelia im großen Opernstyl; der „grand vin“ der französischen Weinhändler fällt mir dabei ein. Hamlet singt nach einem hübschen Motiv „doute de la lumière“, Ophelia antwor- tet: „astre de la lumière“ u. s. w. Laertes führt sich mit einer wohlklingenden Cavatine ein, deren Motive (nicht aber die Tonart: Des-dur!) den chevaleresken Jüngling recht gut zeichnen. Darauf Officiers- und Pagenchor, sehr hübsch, aber auch sehr offenbachisch. Originell und sehr effectvoll sind die dreitactigen Rhyth- men zu Anfang, die beim zweiten Motiv plötzlich in zweitactige mit frappanter Wirkung übergehen. Diese Acthälfte ist, genau genommen, ein ganzer Act mit Introduction, Finale u. s. w. Verwandlung: die Esplanade, wo es spukt. Entsprechende Schauermusik. Hamlet, Marcell, Horazio – aus dem erleuchteten Königsschlosse tönen weilweise die festlichen Fanfaren des Bankets. Goethe hat, wie bekannt, es kurz und schön auseinandergesetzt, wie Hamlet und seine Genossen in der Winternacht unbehag- lich auftreten, wie Shakespeare die Stelle „vom Schmausen und Zechen der Nord- länder so zweckmäßig angebracht hat“, daß wir so gut wie der Prinz auf das erwar- tete Phantom vergessen, und wie wir nun völlig erschrecken, wenn Marcellus plötzlich ruft: „seht, es kommt“. Recht nach Gespensterart ist der Geist leise und unerwartet da, wie ein plötzlicher Blitz bei Nacht. So bescheiden ist kein Opern- gespenst! Hamlets Vater kündigt sich nicht ohne Spectakel an – er telegraphirt gleichsam: „ich komme“ und sendet erst noch, so zu sagen, meldende Livréebe- diente voraus. Ohne Gleichniß: die Musik nicht allein kündigt ihn an, sondern auch die zwölf dröhnenden Schläge der Mitternachtsglocke, Fis und Fis und noch- mals Fis und so zwölf Mal mit allerlei Harmonisirungsgewürz. (Lindpaindtner hat in seinem „Vampyr“ denselben Effect, aber viel grobmassiger und viel weniger geistreich als der Franzose.) Plötzlich Tremolo auf Cis – auf das der volle Dreiklang von D-dur einsetzt, also ein hinlänglich erschrecklicher Secundenaccord, Sohn eines hinlänglich erschrecklichen Septimenaccordes – es ist ein fürchterlicher