Seite - 511 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

511 September 1873 155 160 165 170 175 180 185 190 195 diese Geschicklichkeit wird sich ihm durch noch mehr lohnen, als daß er nicht in Verlegenheit geräth, wenn ihm die Sängerin am Klavier ins Ohr raunt: „Accompa- gniren Sie doch meine Arie um einen halben Ton tiefer!“ Schwierigkeit ruft, um sie besiegen zu lernen, Fleiß und Anstrengung hervor und Fleiß und Anstrengung tragen herrliche Früchte. Es ist gar nicht wohlgethan, jede und jede Schwierigkeit, welche die Musik umgiebt, zu beseitigen, wohin z. B. auch die moderne leidige Gewohnheit gehört, alle Singstimmen, mit Ausnahme des Basses, im Violinschlüs- sel zu schreiben – unsinniger Weise auch den Tenor!! „Man muß Kunst halten, daß Kunst bleibt“ – sagten die Musici zu Martin Agricola’s Zeiten, worüber sich der wackere Magdeburger Cantor sehr ärgert – aber so gar Unrecht haben sie nicht gehabt. Es mischen sich dann nicht gar so viele unberufene Hände ein, wenn sie Gefahr laufen, sich an einem Dornenzaun von Schwierigkeiten zu stechen. Ganze Schlachtordnungen von Blasinstrumenten blicken uns aus hohen Glas- schränken entgegen – „intestinisch gewundene“ (wie Marx sagt) Hörner, Posau- nen, Saxophone, Trompeten, Flügelhörner u. s. w. funkeln im Metallglanz, Flöten, die man vor lauter Silberklappen gar nicht sieht, stehen in Reihe und Glied neben den Schwestern Oboen und Clarinetten, dahinter bäumen sich Baßclarinette auf und öffnen ihre Ichthyosaurus-Rachen u. s. w. Wenn man sieht, mit wie verhält- nißmäßig wenig Instrumenten sich gerade die allergrößten Instrumentalcompo- nisten: ein Haydn, Mozart, Beethoven, Weber, Mendelssohn u. s. w. beholfen, und wenn man damit die überzahlreichen Flöten-, Oboen-, Fagott- und sonstigen In- strumentenfamilien vergleicht, wie sie Prätorius in seinem Theatrum instrumen- torum aus dem Anfang des 17.  Jahrhunderts schildert, so kann man seine Gedan- ken haben. Unser Heer von Blasinstrumenten giebt an Zahl und verschiedener Größe und Beschaffenheit jenen untergegangenen Generationen aus der Zeit Prä- torius’ kaum etwas nach – wie viel davon ist aber für den Künstler höherer Ord- nung wirklich brauchbar? Die Baßclarinette sicher – welche gewaltige Wirkung erzielt damit z. B. Wagner im „Lohengrin“! Auch daß sich Meyerbeer der vergessenen Viole d’Amour erinnerte, war ein guter Einfall. Aber z. B. das Flügelhorn? Dieses Instrument, das bei völliger Seelenlosigkeit und Kälte immerfort überschwängliche Sentimentalität lügt und uns aus allen Gartenmusiken sofort empfindungsvollst entgegenjam- mert? Man führe alle diese Saxophone, Flügelhörner u. s. w. in die höhere Orches- termusik ein – und es ist ihr Tod. Ein ehrlicher Componist wird wissen, wie ihm nur schon drei Posaunen den Tonsatz belasten. Wo Blechmassen aufgeboten sind, um z. B. unsere riesigen Opernhäuser mit ihrem Lärm zu füllen, muß jede feinere Durchbildung des Tonsatzes, muß die reizende, lebensvolle Beweglichkeit der Sai- teninstrumente verloren gehen, wie wir sie bei Haydn, Mozart, Beethoven finden – die Geigen müssen in Massen schreien, um von dem ungeheuerlichen Blechchor nicht völlig überschrieen zu werden. Man höre nur z. B. die Orchestration von Wagners „Rienzi“. Das ist der directe Weg zur musikalischen Barbarei! Auch die altgewohnten Instrumente leiden unter dem „pruritus inveniendi“ – unsere Flöten, die von Klappen also umkleidet sind, daß sie beinahe wie der be- rühmte „Stock im Eisen“ zu Wien aussehen, haben lange nicht den milden, wei- chen Honigseimton der alten einfachen Flöte. Der Flötist wird uns freilich mit