Seite - 523 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

523 Oktober 1873 15 20 25 30 35 40 45 50 55 Orgelphantasie, als Componist mit einer neuen Symphonie, welche er selbst diri- girte, vor uns trat. Das gedruckte Programm des Concertes zeigte den Beisatz „zur Feier des Abschlusses der Weltausstellung“. Was letztere mit Herrn Bruckners Or- gelspiel oder Symphonie zu schaffen hat, haben wir nicht recht einzusehen ver- mocht – es hätte eben so gut heißen können: „zur Eröffnung der Hochquellen“ oder „zur Feier des Erlöschens der Cholera“. Es hat uns diese Appellation an die Weltausstellungsfremden, als des Künstlers nicht würdig, keineswegs gefallen wol- len und hat nicht einmal sonderlich genützt, denn was wir in dem nichts weniger als überfüllten Saal an Publicum bemerkten, sah erstaunlich „einheimisch“ aus. Herr Bruckner ist als Orgelspieler und Improvisator längst accreditirt; es ist darüber nichts weiter zu sagen. Kommen wir denn zur symphonistischen Novität! Vorläufig bemerken wir, daß sie mit tobendem Beifall aufgenommen wurde. Wer einen Theil seines Lebens in Concertsälen hat versitzen müssen, bekommt zuletzt eine Art Feingefühl für den jeweiligen Werth des Applauses. Diesmal war es nicht die begeisterte Zustimmung einer unwillkürlich hingerissenen Menge, es war der spectaculöse und tendenziöse Lärm eines Publicums, das über den Erfolg schon im vorhinein mit sich einig ist, die Sache mag aussehen, wie sie will. Daß dergleichen ganz geeignet ist, wohlbewahrte und würdige Kunstzustände, wie das Musikleben in Wien ohne Frage bisher war, zu demoralisiren und zu depraviren, steht außer Zweifel. Wir wissen im voraus, ob wir applaudiren oder zischen werden, je nach- dem der Componist Hinz oder Kunz heißt. Welcher Partei gehört der Künstler an? Diese Frage entscheidet den Erfolg. Richard Wagner hat sich bei seiner vorjährigen Anwesenheit in Wien über Bruckners Talent mit warmem Antheil ausgesprochen, er rieth ihm, alles Andere aufzugeben und sich ganz der Composition zuzuwenden, das sei sein Feld u. s. w. Männer, deren Urtheil hochzuachten ich alle Ursache habe, hatten mir schon in der vorigen Saison gesagt: die neue Synphonie athme Beethoven’schen Geist, sei ein Werk von großer Bedeutung. Ich hatte hienach, wie ich ehrlich sagen muß, eine Musik von ganz anderer Färbung erwartet, als mir nun entgegentrat. Bald genug merkte ich, daß hier Wagner tausend Mal mehr Antheil habe als Beethoven; ausgenommen das Scherzo, das, einige moderne Explosionen und die Venusberg- Geigen zu Anfang des Trio abgerechnet, wirklich Beethoven’schen Zug und Schwung hat und daher auch sofort mit sich fortreißt. Im Andante überraschen einzelne wahrhaft blendende Geistesblitze, welche Wagners Urtheil zu rechtferti- gen scheinen. Aber was sollen wir zum ersten Allegro, zum Finale sagen? Der Componist will immerfort spannen – vor lauter Spannung fühlen wir uns aber nur zu bald abgespannt. Es wäre der Mühe werth, die Zahl der „spannenden“ Generalpausen in dem Werke zu zählen, ein Mittel, von welchem die großen Meister mit Recht nur selten Gebrauch gemacht haben. Wo wir eine zusammenhängende, gegliederte, Eines durch das Andere motivirende Rede wünschen und erwarten, vernehmen wir un- aufhörliche Suspensionen, Interjectionen – musikalische Frage- und Ausrufungs- zeichen und Gedankenstriche, denen kein Inhalt vorangegangen und keiner nach- folgt. Wo wir eine festgefügte musikalische Tektonik erwarten, werden wir durch willkürlich an einander gereihte Tongebilde bis zur Athemlosigkeit gehetzt.