Seite - 528 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

528 November 1873 65 70 75 80 85 90 95 100 105 Was dieser Composition ihre größte Wirkung giebt, ist aber nicht blos das Vergnü- gen, diese Beziehungen – gleichsam Lösungen eben so vieler Räthsel – herauszufin- den, die große Wirkung liegt vielmehr in dem Athem des musikalischen Genius, den wir überall spüren. Der alte Tomaschek in Prag pflegte diesen Punkt mit einer Aeu- ßerung, die er jezuweilen hören ließ, zu charakterisiren: „Wer’s nicht hat, der kauft es nicht in der Apotheke.“ Brahms „hat es“ und kann sich also glücklicher Weise den vergeblichen Gang in die Apotheke ersparen. Dieses kleine, in den Apotheken nicht verkäufliche Requisit ist durch nichts Anderes zu ersetzen, durch keine Originali- täts-Purzelbäume, nicht durch das verzweifelte Streben, Tact nach Tact zu verblüffen oder zu spannen, nicht durch Combinationen, die „noch nie dagewesen“. Dieser lebendigmachende Geist ist es, der den Werken der alten großen Meis- ter ihre Wirkung nach hundert, zweihundert und mehr Jahren sichert. Wir haben moderne Symphonien und andere Musikwerke, die mir vorkommen wie leere Rit- terrüstungen in einer Rüstkammer, sie haben Kopf und Brust, und Arme und Beine – aber es steckt kein lebendiger Held darin. Noch schlimmer sind jene Com- positionen, welchen man es ansieht, daß sich ihre Schöpfer mit Vergnügen dem Satanas selbst verschreiben würden, wenn er so gefällig wäre, ihnen etwas recht Originelles, noch nie Dagewesenes einzublasen. Geht’s auf den Füßen nicht weiter, so geht’s auf dem Kopf. Es ist gut, wenn von Zeit zu Zeit Compositionen auftau- chen wie das neueste Orchesterwerk von Brahms, wir dürfen dann doch wenigs- tens unsere Zeit nicht als eine völlig sterile anklagen und beklagen. Hoffentlich wird uns bald die Partitur gedruckt vorliegen und dann ein Gegenstand fruchtba- ren Studiums sein. Auch für die zahlreichen Liebhaber des Klavierspieles zu vier Händen möge Brahms, der ja selbst ein eminenter Pianist heißen darf, durch ein Arrangement sorgen – wiewohl bei Ausfall der wahrhaft prachtvollen Orchestri- rung, in welcher zuletzt sogar das Metallgeflimmer des Triangels in sehr wirksa- mer Weise verwerthet wird, das Ganze eine wesentliche Einbuße wird erleiden müssen. Johannes Brahms, dem wir hier zu seiner neuesten Schöpfung von gan- zem Herzen Glück wünschen, dirigirte letztere selbst. Die Ausführung war der Philharmoniker würdig, der Beifall ein echter. Die übrigen Nummern des Concertes waren zwei Symphonien und eine Ouver ture. Zwei Symphonien? Ja wohl! Aber die erste war die Mozart’sche in D-dur (in vier Sätzen, nicht die sogenannte „Prager“, welche nur drei Sätze hat), die sehr rasch und feurig verläuft, dann kam freilich ein Koloß, Beethovens sieben- te Symphonie. Die Symphonie Mozarts hat uns hohen Genuß gewährt. Sie ist eine der früheren des Meisters und hat einen gewissen archaischen Zug, als lächle uns Mozarts heiteres Jünglingsgesicht aus den Donnerwolken von Händels Allonge- perrücke an. Aber näher besehen hat er sich besagte Perrücke nicht einmal aufge- stülpt – es ist am Ende nur die gewaltige Urkraft und Energie des durch den gan- zen ersten Satz überall durchblickenden ersten Thema, welche hier täuscht, als höre man etwas Händel Verwandtes. Der Styl ist reinster Mozart vom ersten Tact bis zum letzten – und das sprühende Feuer des Finale ist ein ganz anderes, als wie wir bei Händel in gewissen schwungvollen Sätzen antreffen. Diese wunderbar frisch-kräftige Symphonie hört man übrigens nur selten – wir sind daher den Phil- harmonikern für die Wahl doppelt zum Dank verpflichtet.