Seite - 531 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

531 November 1873 45 50 55 60 65 70 75 80 85 Herrlichkeit des „Großkönigs“. Dryden mußte natürlich seine Thais möglichst veredeln, sie wurde ihm zu einer Art verwilderter Aspasia. Er weist ihr den Platz neben Alexander an, sie werden als „selig Paar“ gepriesen; sie ist „wie Hebe jung, wie Hebe schön“ und wird zuletzt mit Helena verglichen: „durch Thais und Helenen entbrennt ein Ilion“. Mit diesem kolossalen Unheil, welches auch als eine Wirkung der „Macht der Musik“ auftritt, wird sicherlich die Musik nicht sonder- lich verherrlicht. Bis hieher und so weit hat das Oratorium eine Art dramatischen Ganges. Jetzt aber tritt zu unserem Staunen der Dichter persönlich hervor und erklärt alles Frühere, das wir in der Illusion des Kunstwerkes für bare Wirklichkeit nahmen, für ein bloßes gelehrtes Citat, für eine Phantasmagorie: „so stimmte einst Timotheus, als Bälge noch nicht athmeten“ u. s. w. Und nun, mit einer zwei- ten, nicht minder unerwarteten Wendung: „vom Himmel kam Cäcilia“ u. s. w., und endlich: „Timotheus tritt ab den Preis!“ wobei aber der Dichter mit dem Ver- dict den Streit endet: „nein, beide theilt den Kranz; er hob den Menschen himmel- an – sie zog den Gott herab“. Eine Antithese, die vielleicht mehr witzig als wahr ist, denn sie ließe sich eben so gut umkehren. Sollte diese Oratorium-Cantate wirklich zu Ehren der h.  Cäcilia gemeint sein, so mußte der Dichter allerdings diese gewaltsame Schwenkung machen, um der Heiligen wenigstens zuletzt und nach einem weiten Umweg ihre Lobpreisung zu- kommen zu lassen. Dryden mag aber noch einen Hintergedanken gehabt haben. Das Phantom der antiken Musik und ihrer geträumten Herrlichkeit und Zauber- macht, welches die Florentiner Platoniker, Archäologen, Musikgelehrten und Musikdilettanten um 1600 heraufbeschworen hatten, war zu Drydens Zeit noch nicht völlig verschwunden und der Streit, ob die antike, ob die neue Musik vorzu- ziehen, war noch nicht zu Ende. Es war ein unfruchtbarer Streit, denn gerade die enragirtesten Vorkämpfer für die griechische Musik, wie Graf Bardi, Girolamo Mei, Vincenzo Galilei, G.  B. Doni u. a., wußten von ihr so wenig oder vielmehr so gar nichts, wie wir wenig oder nichts von ihr wissen, da alle wirklichen Kunst- denkmale fehlen und nur zum Theile höchst zweifelhafte Anekdoten und Wun- dergeschichten bei den alten Autoren übrig geblieben und nebstdem einige theore- tische Schriften – letztere ein wahrer Sauerteig, an dem die gelehrteste moderne Gelehrsamkeit gekaut hat, kaut und kauen wird, ohne damit fertig werden zu können. Wer die Schriften Vincenzo Galilei’s, G.  B. Doni’s u. a. kennt, weiß, in welchem Tone der Streit geführt wurde; – Doni hat z. B. ein ganzes, dem Cardinal Mazarin gewidmetes Buch de præstantia musicæ veteris (1647) geschrieben, worin er zuweilen mit etwas starken Ausdrücken um sich wirft: „wollte irgend ein unver- schämter Bewunderer der neuen Musik behaupten, daß u. s. w.“ oder: „nur jene begreifen die Herrlichkeit antiker Musik, denen Jupiter gnädig gewesen (quos æquus amavit Jupiter)“, und dergleichen mehr. Dryden versucht nun etwas der Art, was die Juristen eine „Sühnhandlung“ nennen: „nein, beide theilt den Kranz!“ Ein eigener Schluß, eine Nutzanwendung, auf die wir beim Anfang des Ge- dichtes nicht gefaßt sind, – Timotheus kann zufrieden sein, er gewinnt den Proceß wenigstens halb, obwohl er selbst gar nichts ad acta giebt, er gewinnt ihn auf Grund dessen, was ein – neuer Tonkünstler in seinem, des Timotheus Namen mit neuer Musik thut. Bedeutender und gewichtiger wäre der Schluß, wenn es