Seite - 537 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

537 November 1873 90 95 100 105 110 115 120 125 130 diese Symphonie eine wahre Warnungstafel: selbst Schumann hielt sie, in Folge einer Verwechslung mit der damals noch nicht publicirten Symphonie in A-dur, für den musikalischen Nachhall italienischer Reiseeindrücke, und Lampadius, Mendelssohns nicht sehr geistreicher erster Biograph, verspürte darin einen, wie er sagt, languor italicus. So kann man irren! Die Aufführung der Symphonie war herrlich. Im Scherzo waren die kleinen Plaudereien der Blasinstrumente unter einander geradezu Virtuosenstücke des Or- chesters, und das Adagio war ein voller, überwältigender Strom von Gesang. Nicht minder trefflich ging Beethovens große, fugirte Ouverture, welche das Concert eröffnete. Beethoven selbst bezeichnete sie als „im Style Händels“ – sie stammt aber eher von der genial frei fugirenden „Zauberflöten“-Ouverture – und recht besehen ist sie weder Händel’sch, noch Mozartisch, sondern Beethovens. Zu den großen musikalischen Exhibitionen der Philharmoniker- und der Ge- sellschaftsconcerte gehören als nothwendige Ergänzung Hellmesbergers Quar- tettabende. Das Streichquartett ist ja recht eigentlich die Musik „für Kenner und Liebhaber“. Ohne blendende äußere Effecte, ohne die ihm versagte Wucht der Massenwirkungen, in krystallener Durchsichtigkeit den Gang seiner vier Stimmen immerfort zeigend, schon durch letzteren Umstand im Wesentlichen auf Polypho- nie, wenn auch nichts weniger als durchweg an streng und exclusiv contrapunkti- schen Styl gewiesen, jede Leerheit in der Harmonie, jeden unschönen Schritt der Stimmenführung sofort zu Tage bringend, die genaueste Kenntniß des Componis- ten von dem, womit Wohlklang, Kraft und Anmuth zu erzielen ist, erheischend, repräsentirt das Quartett eine ganz eigene Art Musik. Es ist für den Componisten die wahre épreuve d’artiste. Für Leute, die ihre musikalischen Genüsse hauptsäch- lich im Theater und im Tanzsaal suchen, ist es freilich so gut wie nicht da, und wenn sie’s hören müssen, langweilig. Es muß auf ein „Parterre von Kennern“ zäh- len. Daraus erklärt sich vielleicht eine merkwürdige Erscheinung: daß die großen Meister ihre ersten kühnen Schritte in neue, früher unbekannte, einstweilen unsi- chere Gebiete am liebsten im Streichquartett machten. Dies gilt von Mozart – sei- ne dem werthen Freunde Joseph Haydn gewidmeten Quartette sind wahre Ent- deckungsreisen – man weiß, wie ein hoher Kunstfreund die Musikblätter voll Zorn zerriß, wie man die Ausgabe wegen „gar zu vieler Druckfehler“ als „un- brauchbar“ zurückstellte. Beethovens sogenannte „zweite“ und „dritte Manier“ kündigt sich in den Quartetten zuerst und früher als selbst in den Klaviersachen an. Wie fremd steht das Es-dur-Quartett op.  74, das F-moll-Quartett op.  95 in seiner sonstigen musikalischen Umgebung da! Leute, welche die erste Symphonie, die Prometheus-Ouverture lebhaftest beklatscht hatten, stutzten über die Nüsse, die sie in den Quartetten op.  18 zu knacken bekamen; merkten aber doch, es sei an der Sache etwas. „Sie sind voll widerborstiger Stellen, aber man kann sich daran kaum satt hören“, meinte ein gleichzeitiger Kritikus. Heutzutage giebt es schon wieder musikalische Fortschrittsseelen, welche bedauernd meinen: „hier stehe Beet hoven noch ganz (und leider!) auf Mozart’schem Standpunkt“. Diese Mei- nung ist so falsch wie möglich – aber sie beweist, wie glatt uns heutzutage die „widerborstigen Stellen eingehen“. In Beethovens letzten Quartetten kündigt sich unverkennbar wieder eine neue Musikwelt an – die auch sogar über die neunte