Seite - 541 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

541 November 1873 40 45 50 55 60 65 70 75 80 tes Beispiel finden, – sie spielte ferner eine Menge kleinerer, d. h. kürzerer Stücke, die aber sämmtlich an die Tüchtigkeit des Ausführenden nicht eben kleine Anfor- derungen stellen. Daß das Publicum bis zum Schlusse in Spannung und Antheil blieb, ist für die Pianistin ein sehr ehrenvoller Erfolg. Sie begann mit Rubinsteins viertem Concert (in D-moll). Der Componist hat dieses Werk für seine eigenen Riesenkräfte berechnet und wird schwerlich Viele finden, welche wagen dürfen, es ihm nachzuspielen. Frau Essipoff durfte es wagen. Wir mußten die geradezu männliche Kraft und das ungestüme Feuer bewundern, womit sie allen Anforderungen des Componisten gerecht wurde. Schade, daß sich die Composition nicht durchwegs auf gleicher Höhe hält und insbesondere das von Uebertriebenheiten und Bizarrerien nicht freizusprechende Final, in welchem Rubinstein mit einem ungeheuren Aufwand von Virtuosität uns eigentlich kaum mehr sagt, als daß er uns nichts Rechtes zu sagen habe, gegen den grandiosen er- sten Satz bedeutend abfällt. In dem schön exponirten Andante geschieht die Wen- dung, wenn nicht zum Schlimmen, so doch zum Gleichgültigen ganz plötzlich – mit dem Wenden des Blattes. Es ist, als sei Rubinstein mitten im Componiren etwa zum Mittagessen abgerufen worden und habe nach Tisch die rechte Stim- mung nicht mehr finden können. Wie oft hat man diese Ungleichheit bei Rubin- stein zu beklagen! Doch bleibt das Resultat, auch wenn man die Bilanz zieht, am Ende ein für ihn sehr günstiges. Das zweite Concert, welches Frau Essipoff spielte, war eine Novität – ein Con- cert in Es-dur von Julius Zellner, welches hier die Feuerprobe bestand, zum ersten Male vor den Areopag des zuhörenden Publicums zu treten. Zellner kann sich gratuliren, eine Interpretin wie Frau Essipoff gefunden zu haben – aber auch Frau Essipoff mag es als angenehme Erinnerung in ihr Tagebuch einzeichnen, daß ihr die Mission wurde, ein so edles Kunstwerk die Erste an die Oeffentlichkeit zu bringen. Die Aufnahme war eine überaus beifällige; das Concert fand sogar unter allen Nummern des Programms den lautesten und wärmsten Beifall. Dieser Erfolg ist ein um so mehr erfreulicher, als sich Zellner bisher nicht beklagen kann, es haben die freundlichen Mächte, welche einen jungen, seine Dornen- und Lorbeer- Laufbahn beginnenden Componisten vorwärts bringen, sich für ihn zu sehr außer Athem gesetzt. Das Publicum horcht allüberall im Ganzen und Großen mehr auf die Namen als auf die Werke – und hat sich seit den Zeiten wenig geändert, wo eine Motette des weltberühmten Josquin am Hofe von Urbino durchfiel, weil zu- fällig dabei sein Name verschwiegen worden, und umgekehrt eine Motette als vermeinte Composition des genialen Niederländers in Rom höchlich bewundert wurde, bis sie der jüngere Adrian Willaert als sein Eigenthum reclamirte, worauf die Sänger das Meisterstück für immer bei Seite legten. Der thätige und aufopfern- de Eifer des Verlegers Gotthardt hat allerdings eine beträchtliche Anzahl von Compositionen Zellners ans Licht treten lassen, aber man weiß, wie viel – oder, besser gesagt, wie wenig sich das Publicum um gedruckte musikalische Novitäten zu kümmern pflegt, wenn es solche nicht auch leibhaft zu hören bekommt. Nach- dem Frau Essipoff mit Zellners Concert einen so entschiedenen Erfolg errungen, wird sie es hoffentlich nicht bei Seite legen, sondern auch anderwärts vorzuführen bedacht sein. Wir haben – beiläufig gesagt – das Gedächtniß der Dame wahrhaft