Seite - 546 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

546 Dezember 1873 90 95 100 105 110 115 120 125 130 Beethovens C-moll-Symphonie, von der uns allen jeder Ton vertraut ist, wirkte dennoch wie eine Novität und wahrhaft überwältigend. In dem Neungestirn der Symphonien des Meisters hat sie eine eigene Bedeutung, sie hatte Geltung schon zu einer Zeit, wo die Leute sich vor den „letzten Arbeiten“ Beethovens noch be- kreuzigten – man nahm sie als eine Art Compromiß zwischen der frühen und der späten Manier Beethovens. Oulibicheff glaubte sie mit ganz ordinären Schmähun- gen, wie miaulement odieux, bei Seite schieben zu können und den triumphirenden Eintritt des Finals, diesen musikalischen Moment, der nicht seinesgleichen hat, als gemeines Effectstück brandmarken zu dürfen. Der russische Musikfreund mußte aber – insbesondere durch sein Buch über Beethoven – die fatale Wahrheit einse- hen lernen, daß, wer nach der Sonne Hände voll Schmutz wirft, die Sonne nicht verfinstert, wohl aber das Projectil auf sein eigenes Haupt zurückfällt. Die bekannte „Serenade“ in A-dur von Brahms war zwischen zwei so überaus glänzende Stücke, wie diesmal Ouverture und Symphonie, nicht zum besten pla- cirt und verblaßte daher in sehr fühlbarer Weise. Sie ist eines der früheren Werke ihres Componisten und verräth es in jedem Satze. Seitdem geht Brahms ganz an- dere Wege. Den Musiker wird die musikalische Dialektik, mit welcher wenige Themen zu ganzen Sätzen ausgesponnen sind, das intricate Tongewebe immer in- teressiren – aber das Genre der Serenade will auch die sinnliche Fülle, den Far- benglanz, die Quellenfrische, wie sie z. B. Beethovens Septuor so überaus erfreu- lich machen. Gesang bei den Philharmonikern ist eine Seltenheit. Herr Staudigl, ein Sohn des unvergeßlichen Sängers und Eleve des Conservatoriums, sang die Arie des Polyphem aus Händels „Acis und Galathea“ mit entschiedenem Erfolg. Staudigl Vater machte mit eben dieser Arie, als er von London nach Wien zu- rückkehrte, förmlich Furore. Händel ist darin bis an die Grenze des Möglichen gegangen; nicht bloß für den Sänger, sondern auch im musikalischen Ausdruck. Es ist Caricatur, aber mit Michel-Angelo’schem Pinsel gemalte Caricatur. Wie der Riese die wenigen zärtlichen Phrasen und schmeichelhaften Vergleichungen, wel- che er seinem widerwilligen Gehirn abgepreßt, immer wieder herausbrüllt, macht er einen dem Kaliban Shakspeare’s ähnlichen Eindruck, nur daß er noch ungeheu- erlicher ist. Ursprünglich wurde „Acis und Galathea“, wie bekannt, als Oper auf dem Theater gegeben. Der Darsteller des Polyphem mag aussehen, wie er will, seine Erscheinung wird mit dieser ungeschlachten Riesenmusik immer in Wider- spruch stehen, er müßte denn, dem Bibelspruche zuwider, seiner Länge eine Elle oder noch besser eine Klafter zusetzen können. Im Concertsaale geht es eher, da hilft die Phantasie nach. Was nun den jüngeren Staudigl betrifft, der das längst in den Programmen verschwundene Werk wieder zur Geltung brachte, so ist seine Stimme ein äußerst wohlklingender Baß von nobler Klangfärbung und von bedeutender Kraft. Seine Gesangsbildung bewährte sich als eine vorzügliche, er phrasirt sehr gut und spricht im Gesange höchst deutlich aus; große Vorzüge, welche für den jungen Sänger eine bedeutende Zukunft hoffen lassen. Die Coloraturen rollten, der Triller klang mächtig – aber die Odyssee muß er lesen und den Theokrit, ehe er die Arie wieder singt – oder auch nur den Text von „Acis und Galathea“, wo er einen Chor finden wird: „behold the monstre Polyphem“. Statt des ungeschlachten Riesen, der Fels-