Seite - 550 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

550 Dezember 1873 60 65 70 75 80 85 90 95 den rasch wechselnden Bildern eines Guckkastens. Etwas Ungeschickteres als die Art, wie Rezia in einer „Vision“ zuerst in die Handlung eingeführt, wie Bagdad plötzlich herbeigezaubert, wie Ritter Huon zuletzt eben so plötzlich nach Paris zurückescamotirt wird, die mächtige Gestalt Karl des Großen, die in der aller- letzten Scene als stumme Person (!) eingeführt wird, folglich als Statistenrolle, welche sich auf einige gnädige, gegen Huon zu schneidende Gesichter reducirt – alle diese Dinge sind vielleicht das Ungeschickteste, was die Literatur der Libretti aufzuweisen hat. Ueber die mehr als unsinnige Art, wie der Einheit des Ortes u. s. w. hier ins Gesicht geschlagen wird, hat Planché, der Verfasser des Textes, sein Gewissen ohne Zweifel mit Shakespeare’s vermeintem Vorbilde beschwichtigt. Wir müssen nach Bagdad – changez partez „und Bagdad liegt vor dir“; wir müssen nach Paris – changez partez, da ist Paris. Die Einfälle gehen oft ins Unerlaubte; Rezia, schiff- brüchig an den Strand einer wüsten Insel geworfen, muß in einer gewaltigen Arie Meditationen über die Gefahren einer Seereise anstellen – sie schildert, bei pech- finsterer Nacht, einen vom Componisten prächtig ausgemalten Sonnenaufgang – sicher der ärgste purpureus pannus (wie Horaz derlei brillant sein sollende Hors d’oeuvres nennt), der je vorgekommen*. Der dramatische Moment der Wegschlep- pung Rezia’s durch die Corsaren, der vergebliche Kampf Huons u. s. w. wird in blanker Prosa erledigt, dagegen, um den Seesturm zu motiviren, unnütz ein Chor von „Elementargeistern“ herbeiincommodirt, Grobianen des Geisterreiches. Als Rezia im Corsarenschiff abgefahren und Huon per Geisterpost als Eilgut ihr glücklich nachspedirt ist, werden die Elfen von ihrem König zu einem Ballet befohlen, weil der Poet (?) es als glänzenden Actschluß braucht – nachdem vorher die Meermädchen höchst überflüssiger Weise im Geistersalon ein Lied vorgetragen haben. Almansor und seine Sultanin sind wo möglich noch leblosere Marionetten als Pascha Selim in der „Entführung aus dem Serail“. Die orientalischen Scenen sind für den englischen Autor charakteristisch genug, – weil England in Hindostan und überhaupt im Orient viel zu sagen hat und dort „wie zu Hause“ ist, so läßt sich Planché an wie jener Junker in der Kotzebue’schen Komödie, der sich bei jeder Gelegenheit rühmt, er habe eine Reise von Stolpe nach Danzig gemacht. Da sind unaufhörliche Localanspielungen, kleinliche Orts- und Costümmalereien, bei welchen vor lauter polyhistorischer Detailpinselei nur leider der Gesammtton ver- fehlt ist. Die Rezia, Fatime u. s. w. in den Mund gelegten orientalisirenden Phrasen erinnern an die Kinder bei Goethe, die an Stricken ziehen, dazu „Bim-bam-bum“ sagen und sich einbilden, mit Glocken zu läuten. Huon ist ein recht kläglicher Held. Von den Aufträgen, die ihm Karl gab, bringt er selbst nichts zu Stande, außer daß er den Prinzen Babekan niederhaut (der hier auch dazu kommt wie jener zur Ohrfeige, da Planché von Wielands vor- sichtiger Motivirung dieses Zuges Umgang nahm). Oberon und dessen Horn thun * Man ließ bei der neuen Inscenirung die Sonne wirklich aufgehen – mit wirklich bedeuten- dem Effect. Obgleich Rezia sich später in einigen Worten beklagt, „sie werde wohl nie wieder das Licht der Sonne schauen“, so fällt dieser kleine Widerspruch gegen den entschie- denen Vortheil nicht ins Gewicht.