Seite - 555 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

555 Dezember 1873 20 25 30 35 40 45 50 55 rend überschaulich abtheilt, stürmen bei Bach Tonmassen über Tonmassen – man meint zehntausend Stimmen zu hören; ich konnte während des Stückes immerfort den sonderbaren Gedanken nicht los werden: so müßte es klingen, wenn sich etwa der Rheinfall oder der Niagara auf’s Musikmachen verlegen wollte. Die eingreifen- de – „polychromirende“ möchte ich sagen – Orgel, trefflich von Herrn Bibl ge- spielt, war von herrlicher Wirkung. Außerdem war Bach durch einen Chor „Es ist genug“ vertreten und bestand sogar einen Wettkampf mit seinem Vorläufer Johann Rudolf Ahle. An Kunst und Fülle und Kühnheit der Harmonien kann der ältere Ahle neben Bach, wie natür- lich, nicht bestehen, was aber Ausdruck und Stimmung bei dieser speciellen Auf- gabe betrifft, möchten wir ihm den Vorzug geben. Die rührendste Milde, die frömmste Ergebung spricht aus seinem Chore, – er pocht bescheiden, gleichsam voll Liebe und Demuth an die Himmelsthüre, an welche der gewaltige Bach mit beiden Fäusten anpoltert, bereit sie nöthigenfalls einzuschlagen, wenn Sanct Petrus nicht gutwillig aufthun sollte. Wenn Bach einmal still, demüthig und ergeben betet – was auch oft genug geschieht – so ist er doch wie etwa ein gezähmter Löwe, dem man sehr gut anmerkt, wie die Sachen aussehen würden, wenn er zürnend aufspränge. Würdig reihte sich der schöne Capella-Chor von Jakob Gallus an: „ecce quomodo moritur justus“. Brahms war so artig, die deutsche Uebersetzung in den gedruckten Textblättern beizugeben, und er hat wohl daran gethan, denn ich fürchte fast, es steht um unser Latein wie um das des Heine’schen Marcus Tullius Maßmannus, seit einige Tage her an allen Straßenecken mit großen Buchstaben zu lesen ist: Moriamus pro rege nostro, was glücklich genug an den Bericht jenes Seelenhirten erinnert: morexit aliquis rusticus, qui neque confituit u. s. w. Es war also artig, daß uns Brahms zu lesen gab: „siehe, so stirbt der Gerechte“ u. s. w. Aber es wäre, da unmöglich das ganze Publicum aus Musikhistorikern bestehen kann, auch gut gewesen, beizusetzen: „Jakob Gallus, eigentlich Händl oder Handl, Kärntner von Geburt, Capellmusiker Rudolf des Zweiten.“ Man hat Gallus wohl etwas zu viel Ehre angethan, wenn man in ihm hat den „deutschen Palestrina“ finden wollen; gegen den Meister von Präneste hält er den Vergleich auch nicht entfernt aus; aber ein braver, rein und edel empfindender Meister ist er und Brahms möge einmal auch sein Filiæ Jerusalem ins Programm nehmen, das er im Florilegium Portense findet, oder aber eines der zum Theile sehr schönen Stücke, die Proske in seiner Sammlung hat drucken lassen. Das Ecce quomodo hat Rochlitz publicirt, nicht ohne einige kleine Aenderungen in der Stimmführung, wie denn dieser sonst so brave und tüchtige Mann nicht leicht etwas Fremdes herausgab, ohne es irgendwo zu verrochlitzen, – am schlagendsten beweist es jener hochinteressante Brief Mozarts, den Otto Jahn deßwegen sogar, aber mit Unrecht*, für ein Falsum hielt. Der Chor von Gallus machte einen weihevollen Eindruck – echt deutsch in * Beweis: einige Worte, die Rochlitz falsch gelesen. Z. B. schrieb Mozart „Stanzel“ oder „Stanzerl“ (Constanze, Mozarts Frau), – Rochlitz las „Männel“ – völliger Unsinn also. Was das Wort bedeute, wenn Mozart schreibt: er müsse seine Compositionen ausbieten wie ein „Gretschelweib“, bekennt Rochlitz nicht zu verstehen – es ist aber ein urwienerisches „Fratschelweib“ – in Leipzig ein unbekannter Terminus.