Seite - 557 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

557 Dezember 1873 105 110 115 120 125 130 135 140 bequemt. Der Text lautet höchst desperat, was sich die Musik nicht viel zu Herzen nimmt. Die Ouverture zu „Fierabras“, welche der Arie voranging, erfreut durch kräftigen, heroischen Ton, dabei hat sie etwas Rauhes, fast könnte man sagen: et- was vom cholerischen Temperament. Johannes Brahms leitete sämmtliche Stücke mit gewohnter Umsicht, Energie und mit der gewohnten geistigen Belebung. Bescheidener, bei ähnlicher Grundanlage, ließ sich das von Herrn Wein- wurm geleitete Concert der Wiener Singakademie an; bloße Klavierbegleitung, aber Lust, Liebe und Sorgfalt des Dirigenten und der Ausführenden, die sich all- mälig in Muth und Freudigkeit hineinsangen, so daß Schumanns sogenanntes „Adventlied“, welches das Concert schloß, am besten und wirklich trefflich, Per- golese’s „qui tollis“, welches das Concert einleitete, anfangs ein wenig ängstlich ging – doch nicht so, daß das wunderbare Stück darunter gelitten hätte. Pergolese, der uns nach seinem „Stabat mater“, seiner „Serva padrona“*, seiner hinreißend schönen Sicilienne: „tre giorni“ [sic] als ein liebenswürdig-zartes Talent, als ein höherer Vincenzo Bellini einer glücklicheren Kunstzeit erscheint, hat hier eine Kühnheit und Großartigkeit entwickelt, über die man staunt. Wie anders würde dieses Stück noch mit Orchester und Orgel wirken! Das bekannte Marienlied von Michael Prätorius „es ist ein’ Ros’ entsprungen“ ist selbst wie eine blühende Rose; – ein russisches Volkslied, von Herrn Weinwurm sehr wirksam zum „Vesper- gesang“ für Chor (und Orgel) eingerichtet, gefiel durch das effectvolle Anschwel- len und Abnehmen der Tonstärke, das durch eine geschickt aufgegriffene Pointe des Textes motivirt ist. Die „Wartburg-Lieder“ – ein Chor, mehrere Soli und ein kleines Duo – von Liszt haben uns überaus angenehm berührt. Im Jahre 1799 schrieb ein Leipziger Recensent über Beethoven: „wenn Herr van Beethoven nur mehr sich selbst verläugnen und den Weg der Wahrheit und Natur einschlagen wollte, so könnte er uns bei seinem Fleiße und Talent sicher recht viel Gutes lie- fern“ – und seit 74 Jahren lacht die Welt über dieses berühmt gewordene Dictum, aber bei Liszts Wartburg-Liedern ist es mir wirklich in gutem Sinne eingefallen. Die Selbstverläugnung Liszts und daß er sich mehr als sonst an den „Weg der Wahrheit und Natur gehalten“, hat sich ihm reichlich gelohnt. Die einzelnen Ge- sänge Wolframs, Biterolfs u. s. w. sind nicht bloß geistreich und charakteristisch, sondern auch musikalisch glücklich erfunden und würden ganz unbedingt und ohne Reserve ansprechen, hätte sich Liszt der Wartburg-Sänger seines Freundes Wagner noch etwas weniger erinnert, als er ohnehin gethan. Die declamatorisch wagnerisirenden Stellen (Melodien und keine) wollten sich mit der schönen canta- blen Melodie alten Styls nicht so einen lassen, daß nicht die Löthung sichtbar bliebe und etwas störend würde. Glück machen muß aber diese liebenswürdige Gabe Liszts allerorten. Von den Ausführenden wurden besonders Herr Dr. Krauß und Herr Buchholz nach Verdienst ausgezeichnet. Schumanns Adventlied gilt insgemein für eine schwächere, ja vielleicht für die schwächste unter seinen Arbei- ten – man merkt aber endlich doch überall den vorzüglichen Musiker. Als Symp- tom, wie gewaltig damals Mendelssohns Erscheinung und Vorbild in Leipzig und * Wird hiemit der „komischen Oper“ zu geneigter Beachtung bestens empfohlen!