Seite - 560 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

560 Dezember 1873 15 20 25 30 35 40 45 50 55 nicht gewöhnliches Talent, und wird für Rollen, wo es auf Volubilität der Stimme, brillante Coloratur und frisches, lebendiges Spiel ankommt, immer verdientes Glück machen. Obschon, wie es heißt, „vor nicht langer Zeit“ dem dramatischen Fache zugewendet, bewegt sie sich schon jetzt auf der Bühne mit voller Sicherheit und daß ihre Gesangbildung eine ungemein solide sei, läßt jeder Ton erkennen. Da das Repertoire des Fräuleins aus den Zerlinen, Dinorah u. s. w. besteht und sie keine Ansprüche macht, etwa auch die Valentine oder die Ortrud zu singen, so wird auch der Fonds ihrer nicht großen, aber höchst angenehmen, leicht bewegli- chen und ansprechenden Stimme für Aufgaben dieser Art sicher ausreichen. Wir behalten uns vor, bei nächster Gelegenheit eine eingehendere Charakteristik zu geben. Jedenfalls scheint die seit Jahr und Tag an der Tagesordnung gewesene Frage, wie das Fach einer Coloratursängerin entsprechend wieder zu besetzen und wie der Abgang des Fräuleins Minnie Hauck zu ersetzen wäre, durch Fräulein Tagliana recht befriedigend gelöset. Eine große Coloratursängerin ist sie aller- dings nicht, aber eine ungemein anmuthige, zierliche und liebenswürdige, und da sie erst am Anfange ihrer theatralischen Laufbahn steht, so wird selbst auch noch auf mannigfache Fortschritte gerechnet werden dürfen. Bei ihrer Zerline hätten wir nur die Kleinigkeit zu erinnern, daß sie, da ihre brillante Coloratur, besonders ihr virtuoses Staccato ohnehin an mehr als Einer Stelle zu erfolgreicher Anwen- dung kommt, besser thun wird, die reizende Melodie „Fürwahr, mein Wuchs ist nicht übel“ ohne die Zuthat einer Cadenz plan zu singen, wie Auber sie geschrie- ben, da die Pointe des Textes, auf die es hier doch durchaus ankommt, „ich glaube, daß es noch häßlich’re giebt“, über den Schmuck völlig verloren geht und die lau- schenden Briganten in ihrem Versteck ordentlich ängstlich auf den Schluß der Fermata warten, um dann mit ihrem „ha, ha, das war recht hübsch“ dazwischen zu fahren. Herr Müller als Diavolo, Herr Pirk als Lorenzo waren sehr gut dispo- nirt und erhielten wiederholt Beifall. Herr Meyerhofer und Fräulein Gindele versetzten als Lord und Lady das Publicum in die heiterste Laune. Fräulein Gindele ist in der That die erste uns erinnerliche Darstellerin der Lady Pamela, welcher es gelingt, diese Partie, welche sonst zu den sogenannten „verlorenen Posten“ gehört, zur Geltung zu bringen. Ihre Pamela war nicht nur im Gesange sehr gut, sondern auch in der Darstellung charakteristisch – zudem sah die Dame in den verschiede- nen feinen Toiletten, mit dem künstlichen Blondhaar à l’anglaise sehr reizend aus; nur der scharlachrothe Prachtanzug war für einen flüchtigen Tagesaufenthalt in einem Dorfwirthshaus bei Terracina gar zu recherchirt und wäre wegen der Büffel, welche zwischen Cisterna und Terracina sehr häufig sind und das Roth bekannt- lich nicht leiden können, durchaus nicht anzurathen. Herr Meyerhofer chargirte seinen Lord Kokburn in sehr feiner Weise; trotz aller „Whims“ und Lächerlichkei- ten sah man doch überall den Mann von Welt, der es gewohnt ist, sich in guter Gesellschaft zu bewegen. Die Figur dieses Engländers ist, beiläufig gesagt, ein Beweis, wie sich die Zeiten ändern. Als Fra Diavolo eine Novität war, d. i. um das Jahr 1830, wurde der Lord in einem langen, drapfarbenen, bis an die Knöchel rei- chenden Ueberrock gespielt, mit einem etwas im Nacken sitzenden Hute, der einem umgekehrten Blumentopfe glich, dazu stark geröthete volle Wangen, ein Backenbart halbmondförmig von Ohr zu Mundwinkel und funkelnde Augen-