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1.1. Begriffe 11
1.1.2. Mikrogeschichte
Doch wie äußerte sich diese bedeutende Zeitenschwelle der „Sattelzeit“ jenseits von
großen Strukturen und großen Wort(hüls)en? Die Anlehnung dieser Untersuchung
an die Historische Anthropologie, die, wie Margareth Lanzinger es zusammenfasst,
„Menschen nicht [nur] als Opfer alles determinierender Strukturen […], sondern
auch als Agierende und Reagierende“ betrachtet, wird in dieser Frage bereits of-
fensichtlich.5 In der deutschsprachigen Historiographie wurde besonders seit Hans
Medicks 19846 als Kritik an einer nach seinem Dafürhalten zu strukturorientierten
Historischen Sozialwissenschaft formulierten „Initialzündung“7, und der folgenden,
mitunter heftig geführten Kontroverse8, der Einfluss ethnologisch-anthropologischer
Ansätze deutlich spürbar.9 „Aus Marionetten werden Menschen“, so fasste Mikrohis-
toriker Otto Ulbricht die Hinwendung der Geschichtswissenschaft auf das Indivi-
duum im Titel eines Aufsatzes aus dem Jahr 1997 zusammen.10
Die Frage, wie sich diese Verschiebung des Fokus bewerkstelligen lasse, hatte Carlo
Ginzburg mit seinem Buch „Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio del
’500“ – zu Deutsch „Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600“
5 Vgl. Margareth Lanzinger, Das gesicherte Erbe. Heirat in lokalen und familialen Kontexten – Inni-
chen 1700–1900 (L’Homme Schriften 8), Wien–Köln–Weimar 2003, S. 13.
6 Vgl. Hans Medick, „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforde-
rung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), Heft 3, S. 295–319.
7 Vgl. Paul Nolte, Historische Sozialwissenschaft, in: Kompass der Geschichtswissenschaft, hg. v. Joa-
chim Eibach und Günther Lottes, Stuttgart 22006, S. 53–68, hier: S. 64 f.
8 Vgl. dazu etwa die polemische Kritik von Hans-Ulrich Wehler, der von „naive[r] Zumutung“ und
„billige[m] Defätismus gegenüber den längst nicht überholten Errungenschaften des eigenen Kul-
turkreises“ spricht. (Hans-Ulrich Wehler, Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen?
Die westdeutsche Alltagsgeschichte: Geschichte „von innen“ und „von unten“, in: „Geschichte von
unten – Geschichte von innen“. Kontroversen um die Alltagsgeschichte, hg. v. Franz-Josef Brüg-
gemeier und Jürgen Kocka, Hagen 1985, S. 17–47, hier: S. 47.); oder auch: Hans-Ulrich Wehler,
Geschichte – von unten gesehen. Wie bei der Suche nach dem Authentischen Engagement mit
Methodik verwechselt wird, in: Die Zeit, Nr. 19, 3. Mai 1985, S. 64. – Die Debatte dauert – in
stark abgeschwächter Form – bis in die jüngste Zeit an, wie etwa ein Interview mit Otto Ulbricht
und Achim Landwehr zeigt: Vgl. Claudia Mocek, Vergangenheit unter der Lupe (Interview mit Otto
Ulbricht und Achim Landwehr), in: epoc 3 (2010), Heft 6, S. 54–59.
9 Vgl. dazu das frühe Plädoyer für eine „anthropologisch geprägte Geschichtsschreibung“ von Carlo
Ginzburg und Carlo Poni: Carlo Ginzburg/Carlo Poni, Was ist Mikrogeschichte?, in: Geschichts-
werkstatt 6 (1985), S. 48–52, hier: S. 48; sowie: Giovanni Levi, On Microhistory, in: New Perspec-
tives on Historical Writing, ed. by Peter Burke, Cambridge 1991, pp. 93–113, hier: p. 98.
10 Vgl. Otto Ulbricht, Aus Marionetten werden Menschen. Die Rückkehr der unbekannten histori-
schen Individuen in die Geschichte der Frühen Neuzeit, in: Neue Blicke. Historische Anthropologie
in der Praxis, hg. v. Richard van Dülmen, Erhard Chvojka und Vera Jung, Wien 1997, S. 13–32.
Ein Bürger unter Bauern?
Michael Pfurtscheller und das Stubaital 1750–1850
- Title
- Ein Bürger unter Bauern?
- Subtitle
- Michael Pfurtscheller und das Stubaital 1750–1850
- Author
- Michael Span
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20144-1
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 470
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- 1. Einleitung 9
- 2. Jugend- und Ausbildungsjahre 41
- 3. „Landesverteidiger“ und Schützenkommandant 55
- 3.1. 1797 58
- 3.2. 1799/1800, 1805 77
- 3.3. 1809 88
- 3.3.1. Der europäische Rahmen 88
- 3.3.2. Die bayerische Regierung 89
- 3.3.3. Das Stubaital und die bayerische Regierung 92
- 3.3.4. Michael Pfurtscheller im Vorfeld der Tiroler Erhebung 113
- 3.3.5. Michael Pfurtscheller als Akteur im Erhebungsjahr 122
- 3.3.5.1. Die „Bauern“ erobern Innsbruck 124
- 3.3.5.2. Ausschreitungen und Plünderungen in Innsbruck 133
- 3.3.5.3. Die Kapitulation Bissons 141
- 3.3.5.4. Pfurtscheller und die Organisierung der Landesverteidigung 149
- 3.3.5.5. Unterwegs mit dem Landsturm 154
- 3.3.5.6. Die Kapitulation der Innsbrucker Schutzdeputation und Michael Pfurtscheller 163
- 3.3.5.7. Deputationen nach München und Wien 170
- 3.3.5.8. Die Kämpfe am Bergisel im Mai 172
- 3.3.5.9. „Zwischenkriegszeit“ 180
- 3.3.5.10. Die Kämpfe im August 185
- 3.3.5.11. „Hofers Regiment“ 194
- 3.3.5.12. Fortsetzung des Widerstandes trotz des Friedens von Schönbrunn 201
- 3.3.5.13. Die Pazifizierung des Stubaitales 217
- 3.3.5.14. Exkurs: Das Stubaital als Rückzugsraum für Flüchtlinge 223
- 3.3.6. Der Aufstand im Innkreis 1813 und die Zurückhaltung der Stubaier 225
- 3.4. Erbhuldigung 1838 236
- 3.5. 1848 251
- 4. Michael Pfurtschellers Stellung in Dorf und Tal 287
- 5. Familie Pfurtscheller 315
- 6. Michael Pfurtscheller und die Stubaier Wirtschaft 359
- 6.1. Wirtschaftliche Grundvoraussetzungen des Stubaitales 359
- 6.2. Zahlen und Daten zur Stubaier Wirtschaft 363
- 6.3. Michael Pfurtscheller als Handelsmann 383
- 6.4. Michael Pfurtscheller als Wirt 410
- 6.5. Pfurtschellers Krämerei 422
- 7. Schlussbemerkungen 425
- 8. Anhang 435