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FĂŒr die Fragestellung der vorliegenden Arbeit hĂ€tten die Kontroversen
zweifellos eine Menge neuen Materials geboten. Zugleich aber hÀtten sie deren
Rahmen gesprengt, zumal die Diskussionen um Handkes Beziehung zu Ser-
bien und zum ehemaligen Jugoslawien weit mehr berĂŒhren als das VerhĂ€ltnis
von Literatur und Journalismus, etwa die komplexe politische Geschichte des
Balkans in der zweiten HÀlfte des 20. Jahrhunderts und ihre mediale, wissen-
schaftliche und juristische Aufarbeitung. Gleichwohl seien eingangs zwei
aktuelle Beispiele erwÀhnt, die das Fortwirken der behandelten Thematik im
Schreiben, in der poetologischen Reflexion und im öffentlichen Auskunftgeben
Peter Handkes belegen.
Im November 2019, also im unmittelbaren Vorfeld der Nobelpreis-Verleihung,
betonte Handke in einem GesprĂ€ch mit Ulrich Greiner, man dĂŒrfe zwar âden
Journalismus nicht generell verachtenâ, beharrte aber zugleich auf einem funda-
mentalen Unterschied zwischen literarischem und journalistischem Schreiben:
âDie literarische Sprache ist die natĂŒrliche, sie ist die Sprache des Menschen, des
GefĂŒhls, der Vernunft, sie ist ursprĂŒnglichste, nachhaltigste Sprache. Die Spra-
che des Journalismus ist eine kĂŒnstliche, beigebrachte, schulische.â 4 Handke,
der sich erfreut darĂŒber zeigt, dass Greiner ânicht nur ein Kritikerâ, sondern
auch âein Leserâ sei,5 greift hier einen altehrwĂŒrdigen Topos auf, der sich auf
Johann Georg Hamanns Rede von der Poesie als âMuttersprache des mensch-
lichen Geschlechtsâ 6 zurĂŒckfĂŒhren lĂ€sst und sich seit vielen Jahrzehnten, mit
wechselnder IntensitÀt und SchÀrfe, wie ein Generalbass durch Handkes Werk
zieht: Es handelt sich um einen grundlegenden, nicht selten zu Wut und Hass
eskalierenden Vorbehalt gegenĂŒber dem âJournalistischenâ, der nicht nur die
tendenziöse und sprachlich unsensible Berichterstattung ĂŒber politische Kon-
flikte betrifft, sondern auch das journalistische Schreiben ĂŒber Literatur, die
Literaturkritik und ihre Spielarten.
Die Verleihung des Nobelpreises hat Peter Handke nicht dazu bewogen, diese
lange gehegte Feindschaft ruhen zu lassen â ganz im Gegenteil. Noch in der
Anfang 2020 erschienenen, aber bereits im FrĂŒhjahr 2019 verfassten ErzĂ€hlung
Das zweite Schwert stellt er einen Mann ins Zentrum, der auszieht, um an einer
Journalistin Rache zu nehmen, die einst Falschmeldungen ĂŒber seine Mutter
verbreitet hat: Die als âMaigeschichteâ camouflierte Streitschrift wendet sich
nicht nur gegen die âMyriaden öffentlich agierender Frauenâ, die dem ErzĂ€hler
4 Ulrich Greiner: âSpielen Sie jetzt Tribunal?â [GesprĂ€ch mit Peter Handke.] In: DIE ZEIT, Nr.Â
48,
21. 11. 2019, S. 61 â 62, hier S. 62.
5 Ebd.
6 Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce. [1762] In: J. G. H.: SĂ€mtliche Werke. Hg. v. Josef
Nadler. Bd. II: Schriften ĂŒber Philosophie / Philologie / Kritik. 1758 â 1763. Wien: Thomas-
Morus-Presse 1950, S. 195 â 217, hier S. 197.
Vorwort10
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471