Seite - 10 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit hätten die Kontroversen
zweifellos eine Menge neuen Materials geboten. Zugleich aber hätten sie deren
Rahmen gesprengt, zumal die Diskussionen um Handkes Beziehung zu Ser-
bien und zum ehemaligen Jugoslawien weit mehr berühren als das Verhältnis
von Literatur und Journalismus, etwa die komplexe politische Geschichte des
Balkans in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihre mediale, wissen-
schaftliche und juristische Aufarbeitung. Gleichwohl seien eingangs zwei
aktuelle Beispiele erwähnt, die das Fortwirken der behandelten Thematik im
Schreiben, in der poetologischen Reflexion und im öffentlichen Auskunftgeben
Peter Handkes belegen.
Im November 2019, also im unmittelbaren Vorfeld der Nobelpreis-Verleihung,
betonte Handke in einem Gespräch mit Ulrich Greiner, man dürfe zwar „den
Journalismus nicht generell verachten“, beharrte aber zugleich auf einem funda-
mentalen Unterschied zwischen literarischem und journalistischem Schreiben:
„Die literarische Sprache ist die natürliche, sie ist die Sprache des Menschen, des
Gefühls, der Vernunft, sie ist ursprünglichste, nachhaltigste Sprache. Die Spra-
che des Journalismus ist eine künstliche, beigebrachte, schulische.“ 4 Handke,
der sich erfreut darüber zeigt, dass Greiner „nicht nur ein Kritiker“, sondern
auch „ein Leser“ sei,5 greift hier einen altehrwürdigen Topos auf, der sich auf
Johann Georg Hamanns Rede von der Poesie als „Muttersprache des mensch-
lichen Geschlechts“ 6 zurückführen lässt und sich seit vielen Jahrzehnten, mit
wechselnder Intensität und Schärfe, wie ein Generalbass durch Handkes Werk
zieht: Es handelt sich um einen grundlegenden, nicht selten zu Wut und Hass
eskalierenden Vorbehalt gegenüber dem ‚Journalistischen‘, der nicht nur die
tendenziöse und sprachlich unsensible Berichterstattung über politische Kon-
flikte betrifft, sondern auch das journalistische Schreiben über Literatur, die
Literaturkritik und ihre Spielarten.
Die Verleihung des Nobelpreises hat Peter Handke nicht dazu bewogen, diese
lange gehegte Feindschaft ruhen zu lassen – ganz im Gegenteil. Noch in der
Anfang 2020 erschienenen, aber bereits im Frühjahr 2019 verfassten Erzählung
Das zweite Schwert stellt er einen Mann ins Zentrum, der auszieht, um an einer
Journalistin Rache zu nehmen, die einst Falschmeldungen über seine Mutter
verbreitet hat: Die als „Maigeschichte“ camouflierte Streitschrift wendet sich
nicht nur gegen die „Myriaden öffentlich agierender Frauen“, die dem Erzähler
4 Ulrich Greiner: „Spielen Sie jetzt Tribunal?“ [Gespräch mit Peter Handke.] In: DIE ZEIT, Nr.
48,
21. 11. 2019, S. 61 – 62, hier S. 62.
5 Ebd.
6 Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce. [1762] In: J. G. H.: Sämtliche Werke. Hg. v. Josef
Nadler. Bd. II: Schriften über Philosophie / Philologie / Kritik. 1758 – 1763. Wien: Thomas-
Morus-Presse 1950, S. 195 – 217, hier S. 197.
Vorwort10
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471