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etwa soll die Kritiker mit Eunuchen verglichen haben, die ĂŒber einen Mann spot-
ten, weil er ein buckeliges Kind gezeugt hat.4 Das dem begnadeten Polemiker
Heine zugeschriebene Bonmot zeigt exemplarisch, dass in den entsprechenden
Kontroversen oft mit harten Bandagen gekÀmpft und vor der aggressiven SchmÀ-
hung des jeweiligen Gegners nicht zurĂŒckgeschreckt wird. â[J]ener parasitĂ€ren
Kategorie Menschâ, âdie wie winzige Milchegel an den Zitzen der Kunst hĂ€ngenâ,
konnte auch der 2005 verstorbene österreichische Schriftsteller Wolfgang Bauer
wenig abgewinnen: âAm unteren Endeâ der âgefrĂ€Ăigen Traube, die sich von der
Kunst ernĂ€hrtâ, âbaumeln und saugen die Kritikerâ.5 Die höhnische Abwertung
der Kritiker erhÀlt aber zugleich die Andeutung einer positiven, ja notwendigen
Funktion der attackierten Spezies: âSie sind unruhig wie kleine Kinder; wĂ€hrend
sie ihre Magermilch schreiend kotzen und auch sonst viel Wind machen, tun sie
der Kunst weh. Durch ihr Geschrei machen sie aber viele Leute auf die Kunst auf-
merksam.â 6 Obschon die unter starken Schmerzen gemolkene Kunst im Magen der
Kritiker zur sehr viel weniger schmackhaften âMagermilchâ verkommt, deutet sich
in Bauers provokanter Fabel doch ein symbiotischer Gewinn aus dieser vorderhand
asymmetrischen Beziehung an. Aller GeringschÀtzung zum Trotz war ihm durch-
aus bewusst, dass das Greinen der Kritiker fĂŒr die âĂkonomie der Aufmerksamkeitâ
(Georg Franck) im literarischen Feld ein nicht unwesentliches Element darstellt.
Die Verachtung der Literaturkritik ging und geht bei vielen Autorinnen
und Autoren mit einer nicht unerheblichen SensibilitĂ€t fĂŒr deren EinschĂ€tzun-
gen einher, hĂ€ngen alle âKĂŒnstlerâ doch, wie der französische Soziologe Pierre
Bourdieu betont hat, so stark wie â[n]ur wenige soziale Individuenâ âin dem,
was sie sind, und in ihrem Bild von sich selbst von der Vorstellung ab, die sich
die anderen von ihnen machenâ.7 Ganz in diesem Sinne hat Max Frisch in seiner
4 Vgl. Franz Schuh: All you need is love. Notizen und Exzerpte zur (Literatur-)Kritik. In: F. S.:
SchreibkrĂ€fte. Ăber Literatur, GlĂŒck und UnglĂŒck. Köln: DuMont 2000, S.Â
24 â 114, hier S.Â
34 f.;
auch in: Lauter Worte ĂŒber Worte. Runde und spitze Gedanken ĂŒber Sprache und Literatur. Hg.
v. Christoph Gutknecht. MĂŒnchen: C. H. Beck 1999, S.Â
125. Leider bleiben Schuh und Gutknecht
eine Quellenangabe schuldig.
5 Wolfgang Bauer: Manche KĂŒnstler sind Dichter. In: 25Â
Jahre Residenz Verlag. Zeitgenössische
Literatur. Literatur fĂŒr Zeitgenossen. Almanach fĂŒr Literatur und Kunst 1981. Salzburg, Wien:
Residenz 1981, S. 29 â 34, hier S. 30; auch in: W. B.: Werke in sieben BĂ€nden. Hg. v. Gerhard
Melzer. Bd.Â
6: Kurzprosa, Essays und Kritiken. Mit einem Nachwort v. Rolf Schwendter. Graz,
Wien: Droschl 1997, S.Â
97 â 99, hier S. 97. Zum Kontext vgl. Hermann Schlösser: âMilchegel an
den Zitzen der Kunstâ. Autoren als Gegner der Literaturwissenschaft. In: KonflikteÂ
â SkandaleÂ
â
Dichterfehden in der österreichischen Literatur. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. Berlin: Erich
Schmidt 1995, S. 280 â 290, bes. S. 288 â 290.
6 Bauer: Milchegel an den Zitzen der Kunst (Anm. 5), S. 30.
7 Pierre Bourdieu: KĂŒnstlerische Konzeption und intellektuelles KrĂ€ftefeld. In: P. B.: Kunst und
Kultur. Kunst und kĂŒnstlerisches Feld. Schriften zur Kultursoziologie 4. Hg. v. Franz Schultheis
u. Stephan Egger. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 7 â 49, hier S. 17.
âSchreiben ist ein FĂŒnfkampfâ: Eine Art
Einleitung14
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471