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Entscheidende methodologische Einsichten und theoretische Konzepte ver-
dankt die Dissertation der Kultursoziologie Pierre Bourdieus, auf die ich im
weiteren Verlauf ein ums andere Mal rekurrieren werde. In Die Regeln der Kunst
(1992 im franz. Original, 1999 in dt. Ăbersetzung) hat Bourdieu die âKĂ€mpfe
um die Durchsetzungâ einer legitimen âDefinitionâ von Literatur als zentralen
Motor der VerĂ€nderung im literarischen Feld charakterisiert, ja den âKampf
selbstâ als das âgenerierende und vereinheitlichende Prinzips dieses âSystemsââ
beschrieben.50 Erst die âTatsache, an dem Kampf beteiligt und Gegenstand oder
Anlass von KĂ€mpfen, Angriffen, Polemiken, Kritiken, Einverleibungen usw. zu
seinâ, verbĂŒrge, so Bourdieu, die legitime âZugehörigkeitâ zum literarischen
Feld.51 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der Literaturkritik in diesen
KĂ€mpfen eine ganze zentrale Funktion zukommt â einerseits als Ziel der pole-
mischen Distinktion von jenen Instanzen, die der âBewahrungâ der âgeltenden
Konventionenâ zuzurechnen sind,52 andererseits aber auch als Experimentierfeld
und Reflexionsmedium eigener Positionierungen.
Wiederholt werde ich dabei die von Stephen Greenblatt erteilte Lizenz
zum âEinsatz von Anekdotenâ 53 in Anspruch nehmen, jene âfragmentarische
Methode, die auf dem Prinzip der ReprĂ€sentation basiertâ.54 Ich habe ver-
sucht, anhand ausgewÀhlter Konstellationen zentrale Konfliktlinien im Ver-
hÀltnis von Literatur und Literaturkritik zu prÀparieren und nachzuzeichnen,
um mithilfe dieser âanekdotische[n] Technikâ 55 die Beziehung Bernhards
und Handkes zur Institution der Kritik und zu ihren Akteuren zu erhellen.
Mit einem solchen Ansatz geht, so Greenblatt, auch die Entscheidung einher,
âwenige Abschnitte mit groĂer Leidenschaft, Wachsamkeit und einfĂŒhlsamem
Stuttgart: Metzler 1990, S.Â
318 â 336, und Alexander Honold: Der Leser Walter Benjamin. Bruch-
stĂŒcke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin: Vorwerk 8 2000.
50 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1999, S. 355 u. 368.
51 Pierre Bourdieu: Das literarische Feld. Kritische Vorbemerkungen und methodologische Grund-
sĂ€tze. In: P. B.: Kunst und Kultur (Anm. 7), S. 309 â 337, hier S. 316. â Wenn hier von Schrift-
stellern als âStrategen im Literaturkampfâ gesprochen wird, ist freilich mit Pierre Bourdieu zu
ergĂ€nzen, dass strategisches Handeln im literarischen Feld nicht mit âzynische[r] Berechnungâ
und âbewuĂte[m] Streben nach Maximierung des spezifischen Profitsâ gleichzusetzen ist: âDie
Strategien, die ich meineâ, so Bourdieu, âsind Handlungen, die sich objektiv auf Ziele richten,
die nicht unbedingt auch die subjektiv angestrebten Ziele sein mĂŒssen.â (Pierre Bourdieu:
Soziologische Fragen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 113)
52 Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 50), S. 370.
53 Stephen Greenblatt: Erich Auerbach und der New Historicism. In: S. G.: Was ist Literaturge-
schichte? Mit einem Kommentar v. Catherine Belsey. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S.Â
73 â 100,
hier S. 79.
54 Ebd., S. 81.
55 Ebd., S. 87. âSchreiben ist ein FĂŒnfkampfâ: Eine Art Einleitung 23
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471