Seite - 23 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Entscheidende methodologische Einsichten und theoretische Konzepte ver-
dankt die Dissertation der Kultursoziologie Pierre Bourdieus, auf die ich im
weiteren Verlauf ein ums andere Mal rekurrieren werde. In Die Regeln der Kunst
(1992 im franz. Original, 1999 in dt. Übersetzung) hat Bourdieu die „Kämpfe
um die Durchsetzung“ einer legitimen „Definition“ von Literatur als zentralen
Motor der Veränderung im literarischen Feld charakterisiert, ja den „Kampf
selbst“ als das „generierende und vereinheitlichende Prinzips dieses ‚Systems‘“
beschrieben.50 Erst die „Tatsache, an dem Kampf beteiligt und Gegenstand oder
Anlass von Kämpfen, Angriffen, Polemiken, Kritiken, Einverleibungen usw. zu
sein“, verbürge, so Bourdieu, die legitime „Zugehörigkeit“ zum literarischen
Feld.51 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der Literaturkritik in diesen
Kämpfen eine ganze zentrale Funktion zukommt – einerseits als Ziel der pole-
mischen Distinktion von jenen Instanzen, die der „Bewahrung“ der „geltenden
Konventionen“ zuzurechnen sind,52 andererseits aber auch als Experimentierfeld
und Reflexionsmedium eigener Positionierungen.
Wiederholt werde ich dabei die von Stephen Greenblatt erteilte Lizenz
zum „Einsatz von Anekdoten“ 53 in Anspruch nehmen, jene „fragmentarische
Methode, die auf dem Prinzip der Repräsentation basiert“.54 Ich habe ver-
sucht, anhand ausgewählter Konstellationen zentrale Konfliktlinien im Ver-
hältnis von Literatur und Literaturkritik zu präparieren und nachzuzeichnen,
um mithilfe dieser „anekdotische[n] Technik“ 55 die Beziehung Bernhards
und Handkes zur Institution der Kritik und zu ihren Akteuren zu erhellen.
Mit einem solchen Ansatz geht, so Greenblatt, auch die Entscheidung einher,
„wenige Abschnitte mit großer Leidenschaft, Wachsamkeit und einfühlsamem
Stuttgart: Metzler 1990, S.
318 – 336, und Alexander Honold: Der Leser Walter Benjamin. Bruch-
stücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin: Vorwerk 8 2000.
50 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1999, S. 355 u. 368.
51 Pierre Bourdieu: Das literarische Feld. Kritische Vorbemerkungen und methodologische Grund-
sätze. In: P. B.: Kunst und Kultur (Anm. 7), S. 309 – 337, hier S. 316. – Wenn hier von Schrift-
stellern als „Strategen im Literaturkampf“ gesprochen wird, ist freilich mit Pierre Bourdieu zu
ergänzen, dass strategisches Handeln im literarischen Feld nicht mit „zynische[r] Berechnung“
und „bewußte[m] Streben nach Maximierung des spezifischen Profits“ gleichzusetzen ist: „Die
Strategien, die ich meine“, so Bourdieu, „sind Handlungen, die sich objektiv auf Ziele richten,
die nicht unbedingt auch die subjektiv angestrebten Ziele sein müssen.“ (Pierre Bourdieu:
Soziologische Fragen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 113)
52 Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 50), S. 370.
53 Stephen Greenblatt: Erich Auerbach und der New Historicism. In: S. G.: Was ist Literaturge-
schichte? Mit einem Kommentar v. Catherine Belsey. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S.
73 – 100,
hier S. 79.
54 Ebd., S. 81.
55 Ebd., S. 87. „Schreiben ist ein Fünfkampf“: Eine Art Einleitung 23
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471