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Kontrahenten âin die Vergangenheitâ verweist, bezieht er selbst die Position des
âNeuankömmling[s]â, der bestrebt ist, die Differenz zwischen seiner eigenen
Kunstauffassung und jener des (auch biologisch) Àlteren Lind zu betonen.138 Nicht
nur die âAbwertung der bestehenden kulturellen Werteâ ist Boris Groys zufolge
âein notwendiger Aspekt des innovativen Gestusâ,139 sondern auch die Deklaration
und Denunziation des Bestehenden als Vergangenes, als nicht mehr ZeitgemĂ€Ăes.
In kondensierter Form formuliert Handke in der Folge eine poetologische
Standortbestimmung, die die grundlegenden Positionen seiner Essays Die Lite-
ratur ist romantisch (1966) und Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1967)
zusammenfĂŒhrt und integrativ verdichtet. Wie in anderen FĂ€llen fordert auch
hier der Widerspruch zur Zuspitzung des eigenen Standpunkts heraus, erweist
sich der Dissens als Motor distinkter Selbstbeschreibung:
Sicher ist, daĂ Lind und seinesgleichen, engagiert wie sie sind, bis in alle Ewigkeit
kritiklos die literarischen Formen jener Gesellschaft verwenden werden, die sie zu
kritisieren glauben. Ich selber bin nicht engagiert, wenn ich schreibe. Ich interessiere
mich fĂŒr die sogenannte Wirklichkeit nicht, wenn ich schreibe. Sie stört mich. Wenn
ich schreibe, interessiere ich mich nur fĂŒr die Sprache; wenn ich nicht schreibe, ist das
eine andere Sache.Â
[âŠ] Es wĂ€re mir widerlich, meine Kritik an einer Gesellschaftsord-
nung in eine Geschichte zu verdrehen oder in ein Gedicht zu Àsthetisieren. Das finde
ich die scheuĂlichste Verlogenheit: sein Engagement zu einem Gedicht zu verarbeiten,
Literatur draus zu machen, statt es gerade heraus zu sagen. Das ist Ăsthetizismus, und
diese Art von Literatur hÀngt mir zum Hals heraus. Ich schreibe von mir selber.140
Sind Linds Besprechung und Handkes Replik, in der er dessen Ăsthetizismus-
Vorwurf postwendend an den Rezensenten zurĂŒckreicht, auch als Symptome
eines grundlegenden Konflikts zwischen verschiedenen Schriftstellergeneratio-
nen ĂŒber den Status des âNeuenâ zu interpretierenÂ
â Lind war gut 15Â
Jahre Ă€lterÂ
â,
richtete sich Handkes nĂ€chste âGegendarstellungâ demonstrativ an einen Alters-
genossen: Hans Christoph Buch, Jahrgang 1944, der 1966 mit dem Prosaband
Unerhörte Begebenheiten sein erstes Buch ebenfalls bei Suhrkamp veröffentlicht
hatte. Er wurde Ende 1967 vom Spiegel in einer der Rezension vorangestellten
biographischen Skizze als âeiner der jĂŒngsten unter den Autoren der sich jetzt
etablierenden Nach-GraĂ-Generation [sic]â eingefĂŒhrt und anschlieĂend auf
Handkes zweiten Roman Der Hausierer âlosgelassenâ. Schon mit dem ersten Satz
138 Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 6), S. 254; dazu auch Nina Birkner: Vom Genius zum
MedienĂ€stheten. Modelle des KĂŒnstlerdramas im 20. Jahrhundert. TĂŒbingen: Niemeyer 2009,
S. 9.
139 Boris Groys: Ăber das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. MĂŒnchen: Hanser 1992, S. 63.
140 Handke: Wenn ich schreibe (Anm. 137), S. 467.
âich kann mich damit schwer abfindenâ: Kritik der Kritik als
Werkpolitik58
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471