Seite - 58 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Kontrahenten „in die Vergangenheit“ verweist, bezieht er selbst die Position des
„Neuankömmling[s]“, der bestrebt ist, die Differenz zwischen seiner eigenen
Kunstauffassung und jener des (auch biologisch) älteren Lind zu betonen.138 Nicht
nur die „Abwertung der bestehenden kulturellen Werte“ ist Boris Groys zufolge
„ein notwendiger Aspekt des innovativen Gestus“,139 sondern auch die Deklaration
und Denunziation des Bestehenden als Vergangenes, als nicht mehr Zeitgemäßes.
In kondensierter Form formuliert Handke in der Folge eine poetologische
Standortbestimmung, die die grundlegenden Positionen seiner Essays Die Lite-
ratur ist romantisch (1966) und Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1967)
zusammenführt und integrativ verdichtet. Wie in anderen Fällen fordert auch
hier der Widerspruch zur Zuspitzung des eigenen Standpunkts heraus, erweist
sich der Dissens als Motor distinkter Selbstbeschreibung:
Sicher ist, daß Lind und seinesgleichen, engagiert wie sie sind, bis in alle Ewigkeit
kritiklos die literarischen Formen jener Gesellschaft verwenden werden, die sie zu
kritisieren glauben. Ich selber bin nicht engagiert, wenn ich schreibe. Ich interessiere
mich für die sogenannte Wirklichkeit nicht, wenn ich schreibe. Sie stört mich. Wenn
ich schreibe, interessiere ich mich nur für die Sprache; wenn ich nicht schreibe, ist das
eine andere Sache.
[…] Es wäre mir widerlich, meine Kritik an einer Gesellschaftsord-
nung in eine Geschichte zu verdrehen oder in ein Gedicht zu ästhetisieren. Das finde
ich die scheußlichste Verlogenheit: sein Engagement zu einem Gedicht zu verarbeiten,
Literatur draus zu machen, statt es gerade heraus zu sagen. Das ist Ästhetizismus, und
diese Art von Literatur hängt mir zum Hals heraus. Ich schreibe von mir selber.140
Sind Linds Besprechung und Handkes Replik, in der er dessen Ästhetizismus-
Vorwurf postwendend an den Rezensenten zurückreicht, auch als Symptome
eines grundlegenden Konflikts zwischen verschiedenen Schriftstellergeneratio-
nen über den Status des ‚Neuen‘ zu interpretieren
– Lind war gut 15
Jahre älter
–,
richtete sich Handkes nächste ‚Gegendarstellung‘ demonstrativ an einen Alters-
genossen: Hans Christoph Buch, Jahrgang 1944, der 1966 mit dem Prosaband
Unerhörte Begebenheiten sein erstes Buch ebenfalls bei Suhrkamp veröffentlicht
hatte. Er wurde Ende 1967 vom Spiegel in einer der Rezension vorangestellten
biographischen Skizze als „einer der jüngsten unter den Autoren der sich jetzt
etablierenden Nach-Graß-Generation [sic]“ eingeführt und anschließend auf
Handkes zweiten Roman Der Hausierer ‚losgelassen‘. Schon mit dem ersten Satz
138 Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 6), S. 254; dazu auch Nina Birkner: Vom Genius zum
Medienästheten. Modelle des Künstlerdramas im 20. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2009,
S. 9.
139 Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München: Hanser 1992, S. 63.
140 Handke: Wenn ich schreibe (Anm. 137), S. 467.
„ich kann mich damit schwer abfinden“: Kritik der Kritik als
Werkpolitik58
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471