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Gemeindewohnungen oder in kÀrntnerischen Gelegenheits- und Verlegenheits-
huben oder in steiermÀrkischen Hinterhöfen und schreiben Mist, den epigonalen,
stinkenden, kopf- und geistlosen österreichischen Schriftstellermist, sagte Reger,
in welchem die pathetische Dummheit dieser Leute zum Himmel stinkt, so Reger.â
(TBW 8, 137) Selbstaussagen des Autors und fiktionale Texte greifen hier wie
an zahlreichen anderen SchauplĂ€tzen des Bernhardâschen Ćuvres ineinander;
sie wirken an der Denunziation und Abwertung konkurrierender Akteure im
literarischen Feld mit, wobei die entsprechenden Invektiven wiederum der dis-
tinktiven Werkpolitik des Autors zuarbeiten.
In allen drei zitierten polemischen Texten geht Bernhard vom Vorwurf provin-
zieller, Ă€sthetisch rĂŒckstĂ€ndiger Kleingeistigkeit aus und unterstellt, dass Ă€uĂere
Erscheinung und Lebensstil von Autoren und Kritikern mit der QualitÀt ihrer
intellektuellen und kĂŒnstlerischen Hervorbringungen korrespondieren. Diese
Rhetorik der âsoziale[n] Diskriminierungâ und âKlassenverachtungâ, aus der
Pierre Bourdieu zufolge eine Vielzahl polemischer Texte im kĂŒnstlerischen Feld
ihren Impuls bezieht,5 ist bei Bernhard ĂŒberaus aufschlussreich, hatte er sich doch
selbst aus materiell bescheidenen, zudem alles andere als bildungsbĂŒrgerlich-
intellektuellen VerhÀltnissen stammend im Literaturbetrieb etabliert. Die Pole-
miken gegen das KleinbĂŒrgerlich-Provinzielle 6 sind stets auch als Kommentare
zur eigenen, zwar zunĂ€chst mĂŒhsam, aber schlieĂlich erfolgreich verlaufenen
Karriere, zur Sozialisation des 1931 geborenen Autors im Feld der Nachkriegs-
literatur Salzburgs, Ăsterreichs und schlieĂlich des gesamten deutschsprachigen
Raums zu verstehen.
Wer âĂŒber einen kleinbĂŒrgerlichen Habitus verfĂŒgtâ, rekapituliert Bourdieu
1983 eine Aussage von Karl Marx, der habe auch âGrenzen seines Hirns, die er
nicht ĂŒberschreiten kannâ.7 Im Bewusstsein seiner eigenen sozialen und familiĂ€ren
Herkunft hat Bernhard, das bezeugen seine heftigen Attacken gegen Proletariat,
ProvinzialitĂ€t und KleinbĂŒrgertum, zeitlebens mit der soziologischen Einsicht
5 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frank-
furt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 360. Zum Vorwurf der âKleinbĂŒrgerlichkeitâ gegen bestimmte
Akteure, Praktiken und Kunstrichtungen vgl. Pierre Bourdieu: Rede und Antwort. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1992, S.Â
168. Zur allgemeinen kulturgeschichtlichen Dimension siehe den fol-
genden Sammelband: KleinbĂŒrger. Zur Kulturgeschichte des begrenzten BewuĂtseins. Hg. v.
Thomas Althaus. TĂŒbingen: Attempto 2001.
6 Vgl. Karl Wagner: âEr war sicher der Begabteste von uns allenâ. Bernhard, Handke und die
österreichische Literatur. Wien: Picus 2010, S. 22 f.; Alfred Pfabigan: Motive und Strategien der
Ăsterreichkritik des Thomas Bernhard. In: Thomas Bernhard. Gesellschaftliche und politische
Bedeutung der Literatur. Hg. v. Johann Georg Lughofer. Wien u. a.: Böhlau 2012, S. 35 â 48, hier
S. 44.
7 Pierre Bourdieu: Mit den Waffen der Kritik ⊠In: P. B.: Satz und Gegensatz. Ăber die Verant-
wortung des Intellektuellen. Berlin: Wagenbach 1989, S. 24 â 36, hier S. 26 f.
Sehlustfeindliche SchwÀtzer 65
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471