Seite - 65 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 65 -
Text der Seite - 65 -
Gemeindewohnungen oder in kärntnerischen Gelegenheits- und Verlegenheits-
huben oder in steiermärkischen Hinterhöfen und schreiben Mist, den epigonalen,
stinkenden, kopf- und geistlosen österreichischen Schriftstellermist, sagte Reger,
in welchem die pathetische Dummheit dieser Leute zum Himmel stinkt, so Reger.“
(TBW 8, 137) Selbstaussagen des Autors und fiktionale Texte greifen hier wie
an zahlreichen anderen Schauplätzen des Bernhard’schen Œuvres ineinander;
sie wirken an der Denunziation und Abwertung konkurrierender Akteure im
literarischen Feld mit, wobei die entsprechenden Invektiven wiederum der dis-
tinktiven Werkpolitik des Autors zuarbeiten.
In allen drei zitierten polemischen Texten geht Bernhard vom Vorwurf provin-
zieller, ästhetisch rückständiger Kleingeistigkeit aus und unterstellt, dass äußere
Erscheinung und Lebensstil von Autoren und Kritikern mit der Qualität ihrer
intellektuellen und künstlerischen Hervorbringungen korrespondieren. Diese
Rhetorik der „soziale[n] Diskriminierung“ und „Klassenverachtung“, aus der
Pierre Bourdieu zufolge eine Vielzahl polemischer Texte im künstlerischen Feld
ihren Impuls bezieht,5 ist bei Bernhard überaus aufschlussreich, hatte er sich doch
selbst aus materiell bescheidenen, zudem alles andere als bildungsbürgerlich-
intellektuellen Verhältnissen stammend im Literaturbetrieb etabliert. Die Pole-
miken gegen das Kleinbürgerlich-Provinzielle 6 sind stets auch als Kommentare
zur eigenen, zwar zunächst mühsam, aber schließlich erfolgreich verlaufenen
Karriere, zur Sozialisation des 1931 geborenen Autors im Feld der Nachkriegs-
literatur Salzburgs, Österreichs und schließlich des gesamten deutschsprachigen
Raums zu verstehen.
Wer „über einen kleinbürgerlichen Habitus verfügt“, rekapituliert Bourdieu
1983 eine Aussage von Karl Marx, der habe auch „Grenzen seines Hirns, die er
nicht überschreiten kann“.7 Im Bewusstsein seiner eigenen sozialen und familiären
Herkunft hat Bernhard, das bezeugen seine heftigen Attacken gegen Proletariat,
Provinzialität und Kleinbürgertum, zeitlebens mit der soziologischen Einsicht
5 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frank-
furt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 360. Zum Vorwurf der „Kleinbürgerlichkeit“ gegen bestimmte
Akteure, Praktiken und Kunstrichtungen vgl. Pierre Bourdieu: Rede und Antwort. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1992, S.
168. Zur allgemeinen kulturgeschichtlichen Dimension siehe den fol-
genden Sammelband: Kleinbürger. Zur Kulturgeschichte des begrenzten Bewußtseins. Hg. v.
Thomas Althaus. Tübingen: Attempto 2001.
6 Vgl. Karl Wagner: „Er war sicher der Begabteste von uns allen“. Bernhard, Handke und die
österreichische Literatur. Wien: Picus 2010, S. 22 f.; Alfred Pfabigan: Motive und Strategien der
Österreichkritik des Thomas Bernhard. In: Thomas Bernhard. Gesellschaftliche und politische
Bedeutung der Literatur. Hg. v. Johann Georg Lughofer. Wien u. a.: Böhlau 2012, S. 35 – 48, hier
S. 44.
7 Pierre Bourdieu: Mit den Waffen der Kritik … In: P. B.: Satz und Gegensatz. Über die Verant-
wortung des Intellektuellen. Berlin: Wagenbach 1989, S. 24 – 36, hier S. 26 f.
Sehlustfeindliche Schwätzer 65
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471