Page - 68 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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geworden, âwas doch alles an Wichtigem und eigentlich Unverlierbarem [âŠ]
verloren gehtâ, weil das Feuilleton nur die ausgetretenen Pfade der hinlĂ€nglich
kanonisierten und mit Aufmerksamkeit gewĂŒrdigten Literatur beschreite, aber
keinen Sinn fĂŒr Entdeckungen und vorderhand âAbseitigesâ mehr habe.17 Die
Literaturkritik mache, wie der Autor moniert, nicht aufmerksam auf BĂŒcher
und Autoren, schon gar nicht auf vergessene oder noch nicht entdeckte: âDas
Problem ist, daĂ die, die ĂŒber BĂŒcher schreiben, diese schon lĂ€ngst nicht mehr
brauchenâ, so Handke im Journal Am Felsfenster morgens, das in den Jahren, in
denen der Autor mit seiner Tochter Amina am Salzburger Mönchsberg wohnte,
entstanden ist.18 FĂŒr seine eigene TĂ€tigkeit als Rezensent hingegen, die in Kapi-
tel V in den Blick genommen wird, formulierte er wiederholt den Anspruch,
etwas ĂŒber die besprochenen BĂŒcher âzu schreiben, das wirklich Lust zum Lesen
machtâ, wie er Lenz im MĂ€rz 1975 aus Paris mitteilt.19 Mit âLustâ und mit der
sinnlichen Erfahrung von LektĂŒre konnte er die Riege der etablierten Kritiker
und ihre Texte nicht in Verbindung bringen.
Handkes Diagnose, wonach die âschlechte[Â
] Spracheâ des Journalismus eine
âweltverschlieĂende[Â ] Machtâ darstelle,20 wird indes stets durch das Positivbild
eines ernsten und freien Lesens sowie eines immer wieder aufs Neue begeister-
ten Sprechens und Schreibens ĂŒber Literatur begleitet: âEs gibt noch BĂŒcher zu
lesen jenseits der Zeitungen.â 21 Die âSerie von negativen Bestimmungenâ, mit der
das Zeitunglesen bei Handke im Laufe der Jahrzehnte belegt wird, steht, so Karl
Wagner, in âscharfe[m] Kontrast zum Selbsterlebnis im Lesenâ.22 Die LektĂŒre im
emphatischen Sinn â das âLesen als Mitbuchstabieren, Entdecken, Welt- und
17 Peter Handke an Hermann Lenz, 7. 5. 1974. In: P. H./H. L.: Berichterstatter des Tages. Briefwech-
sel. Hg. u. mit einem Nachtwort versehen v. Helmut Böttiger, Charlotte Brombach u. Ulrich
RĂŒdenauer. Mit einem Essay v. Peter Hamm. Frankfurt a. M., Leipzig: Insel 2006, S. 49.
18 Handke: Am Felsfenster morgens (Anm. 15), S. 14.
19 Handke an Lenz, 14. 3. 1975. In: Handke/Lenz: Berichterstatter des Tages (Anm. 17), S. 68 f.
20 So der Nachvollzug der Handkeâschen Position bei Roland Borgards: Sprache als Bild. Handkes
Poetologie und das 18. Jahrhundert. MĂŒnchen: Fink 2003, S. 41.
21 Peter Handke: Was ich nicht sagte. Eine Entgegnung auf die Kritik am Heinrich-Heine-Preis.
[2006] In: P. H.: Tage und Werke. Begleitschreiben. Berlin: Suhrkamp 2015, S.Â
32 â 34, hier S.Â
33 f.
Vgl. auch das folgende Notat in Peter Handke: Phantasien der Wiederholung. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1983, S.Â
41: âWenn ich Goethe lese, habe ich auch Lust zu den eigenen Sachen (auch diese
nachzulesen); er macht sie nicht nichtig, wie das so viele ZeitungssĂ€tze tunâ. Vgl. dazu Thorsten
Carstensen: âIch muĂ zu Meinesgleichen!â Lesen, Ahnenkult und Autorschaft bei Peter Handke.
In: Die tĂ€gliche Schrift. Peter Handke als Leser. Hg. v. T. C. Bielefeld: transcript 2019, S.Â
9 â 40, hier
S.Â
26: âDas Lesen wirkt in Handkes Texten als Gegenmittel zu jener beschleunigten Ăbermittlung
von Nachrichten, als deren Sinnbild der Autor immer wieder die Tageszeitung angefĂŒhrt hat.â
22 Karl Wagner: Handkes âDer Roman des Lesensâ. In: Texttreue. Komparatistische Studien zu einem
masslosen Massstab. Hg. v. JĂŒrg Berthold u. Boris PreviĆĄiÄ. Bern u. a.: Lang 2008, S. 173 â 181,
hier S. 177. Zu Handkes LektĂŒre-Emphase vgl. auch ders.: Handke als Leser. In: lesen.heute.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik68
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471