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er sich, nach dem Ende seiner Haftstrafe mut- und obdachlos herumstreifend,
âin einem Hohlweg bei Wimsbachâ ausgerechnet âmit mehrere[n] groĂe[n] Zei-
tungenâ zudeckt, ja selbst in der Wohnung seiner Schwester, â[d]a keine Decke
vorhanden warâ, âmit ein paar alten Ausgaben des âLinzer Volksblattesâ vorlieb
nehmenâ muss (TBW 14, 90 f.),38 unterstreicht die Tragik seiner Existenz. Ein
Urteil ĂŒber ihn ist, nicht nur vonseiten der Justiz, sondern auch von der Presse,
lĂ€ngst gesprochen â sich vom, wie es in Der Untergeher (1983) heiĂt, âZeitungs-
bestĂ€tigte[n]â (TBW 6, 39) im Sinne der normativen Kraft des Faktischen zu
lösen, gelingt dem Delinquenten nicht.
âWir haben selbst schon jahrelang keine Zeitung mehr gelesenâ, berichtet hin-
gegen der namenlos bleibende ErzĂ€hler von Midland in Stilfs (1969) ĂŒber eine
abgeschieden, ja âabsolut isoliertâ in einem Bergdorf lebende Gruppe von Men-
schen, âweil wir die ZeitungslektĂŒre, in die wir jahrzehntelang vernarrt gewesen
sind, von einem Augenblick auf den anderen verabscheuten, uns nicht mehr
gestattetenâ. Nur einer von ihnen, Roth, hĂ€lt noch âKontaktâ zur âWeltâ und liest
âim Tal unten die Zeitungâ; es ist ihm freilich streng untersagt, âuns eine Zeitung
herauf zu bringenâ (TBW 14, 127 f.). VerstöĂt jedoch der EnglĂ€nder Midland, der
die Abgeschiedenen episodisch besucht, gegen das strenge Gebot, sie nicht mit
Zeitungen zu versorgen, dann âstĂŒrzenâ sie sich âdarauf wie nach der Zeitungs-
lektĂŒre Ausgehungerteâ (TBW 14, 128), wie rĂŒckfĂ€llig gewordene SĂŒchtige.
Gerade in spÀteren Texten Bernhards erscheint der Abschied von der Zei-
tungslektĂŒre als Teil einer Abkehr von alten Gewohnheiten, von einer in der
Vergangenheit liegenden Existenzweise: âDie billigen Methoden haben sich alle
abgenĂŒtztâ, heiĂt es dementsprechend in Beton (1982),
Besuche, Zeitunglesen etcetera, auch die LektĂŒre der sogenannten höheren Literatur
hat nicht mehr die Wirkung, die sie einmal gehabt hat. Wir fĂŒrchteten aufeinmal das
GeschwĂ€tz, vor allem das, das die sogenannten bekannten und berĂŒhmten, aber um
so widerlicheren Journalisten des Feuilletons ununterbrochen schwÀtzen. Und von
diesem widerlichen GeschwÀtz haben wir uns jahrelang, jahrzehntelang zudecken
lassen. (TBW 5, 95)
In der im gleichen Jahr wie Beton veröffentlichten ErzÀhlung Wittgensteins Neffe,
die vielfĂ€ltige BezĂŒge zur Biographie Bernhards aufweist und durchaus als Fort-
fĂŒhrung der autobiographischen Pentalogie verstanden werden kann, berichtet
das Text-Ich von dem Entschluss, âeinen Aufsatz ĂŒber die Mozartsche Zaide, der
38 Es handelt sich dabei um eine Zeitung, in der am 17. 7. 1954 auch eine ErzÀhlung Thomas
Bernhards, Der Untergang des Abendlandes, erschien (vgl. TBW 14, 493 â 499, sowie den Kom-
mentar ebd., 579) und die zudem im Band Der Stimmenimitator als fiktive Quelle einer anek-
dotischen Miniatur erwÀhnt wird (vgl. TBW 14, 312 f.). Vom Zeitungswahnsinn bedroht 73
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471