Seite - 73 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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er sich, nach dem Ende seiner Haftstrafe mut- und obdachlos herumstreifend,
„in einem Hohlweg bei Wimsbach“ ausgerechnet „mit mehrere[n] große[n] Zei-
tungen“ zudeckt, ja selbst in der Wohnung seiner Schwester, „[d]a keine Decke
vorhanden war“, „mit ein paar alten Ausgaben des ‚Linzer Volksblattes‘ vorlieb
nehmen“ muss (TBW 14, 90 f.),38 unterstreicht die Tragik seiner Existenz. Ein
Urteil über ihn ist, nicht nur vonseiten der Justiz, sondern auch von der Presse,
längst gesprochen – sich vom, wie es in Der Untergeher (1983) heißt, „Zeitungs-
bestätigte[n]“ (TBW 6, 39) im Sinne der normativen Kraft des Faktischen zu
lösen, gelingt dem Delinquenten nicht.
„Wir haben selbst schon jahrelang keine Zeitung mehr gelesen“, berichtet hin-
gegen der namenlos bleibende Erzähler von Midland in Stilfs (1969) über eine
abgeschieden, ja „absolut isoliert“ in einem Bergdorf lebende Gruppe von Men-
schen, „weil wir die Zeitungslektüre, in die wir jahrzehntelang vernarrt gewesen
sind, von einem Augenblick auf den anderen verabscheuten, uns nicht mehr
gestatteten“. Nur einer von ihnen, Roth, hält noch „Kontakt“ zur „Welt“ und liest
„im Tal unten die Zeitung“; es ist ihm freilich streng untersagt, „uns eine Zeitung
herauf zu bringen“ (TBW 14, 127 f.). Verstößt jedoch der Engländer Midland, der
die Abgeschiedenen episodisch besucht, gegen das strenge Gebot, sie nicht mit
Zeitungen zu versorgen, dann „stürzen“ sie sich „darauf wie nach der Zeitungs-
lektüre Ausgehungerte“ (TBW 14, 128), wie rückfällig gewordene Süchtige.
Gerade in späteren Texten Bernhards erscheint der Abschied von der Zei-
tungslektüre als Teil einer Abkehr von alten Gewohnheiten, von einer in der
Vergangenheit liegenden Existenzweise: „Die billigen Methoden haben sich alle
abgenützt“, heißt es dementsprechend in Beton (1982),
Besuche, Zeitunglesen etcetera, auch die Lektüre der sogenannten höheren Literatur
hat nicht mehr die Wirkung, die sie einmal gehabt hat. Wir fürchteten aufeinmal das
Geschwätz, vor allem das, das die sogenannten bekannten und berühmten, aber um
so widerlicheren Journalisten des Feuilletons ununterbrochen schwätzen. Und von
diesem widerlichen Geschwätz haben wir uns jahrelang, jahrzehntelang zudecken
lassen. (TBW 5, 95)
In der im gleichen Jahr wie Beton veröffentlichten Erzählung Wittgensteins Neffe,
die vielfältige Bezüge zur Biographie Bernhards aufweist und durchaus als Fort-
führung der autobiographischen Pentalogie verstanden werden kann, berichtet
das Text-Ich von dem Entschluss, „einen Aufsatz über die Mozartsche Zaide, der
38 Es handelt sich dabei um eine Zeitung, in der am 17. 7. 1954 auch eine Erzählung Thomas
Bernhards, Der Untergang des Abendlandes, erschien (vgl. TBW 14, 493 – 499, sowie den Kom-
mentar ebd., 579) und die zudem im Band Der Stimmenimitator als fiktive Quelle einer anek-
dotischen Miniatur erwähnt wird (vgl. TBW 14, 312 f.). Vom Zeitungswahnsinn bedroht 73
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471