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Dennoch sticht in Bernhards Brief an Unseld erneut die Apodiktik seiner denun-
ziatorischen Feststellung ins Auge: Nicht eine erhebliche Anzahl von Kritiken
oder bestimmte meinungsbildende Zeitungen, etwa die auflagenstarke Kronen-
Zeitung, fallen unter sein vernichtendes Urteil, lediglich âBlödsinnâ von sich zu
geben, sondern eben ausnahmslos âalle Kritikerâ.
âHöre ich meinen Namen aus dem Rundfunkâ, schreibt Bernhard bereits
im Herbst 1972, einige Monate nach dem Salzburger âNotlicht-Skandalâ um Der
Ignorant und der Wahnsinnige, an Unseld, âsehe ich mich im Dreck liegen, lese
ich meinen Namen in der Zeitung, glaube ich, ich bin in einer Kloake.â 76 Ein
ums andere Mal hat der Autor festgehalten, seit Beginn seiner schriftstellerischen
Laufbahn von einer breiten Front der Kritik abgelehnt worden zu sein â auch
wenn sich dieser Befund bei der RelektĂŒre der zeitgenössischen Rezensionen der
Prosaarbeiten und BĂŒhnenstĂŒcke Bernhards kaum verifizieren lĂ€sst. Zwar fanden
einzelne Texte nur wenig positive Resonanz bei den Literatur- und Theater-
kritikern (etwa die Wiener UrauffĂŒhrung der BerĂŒhmten 1976), von einer ein-
helligen Ablehnung seiner Literatur im Feuilleton kann jedoch, wie in der Folge
an einem Beispiel gezeigt werden soll, nicht die Rede sein. Vielmehr erwarben
sich im Laufe der Jahre zahlreiche bedeutende und einflussreiche Kritiker wie
GĂŒnther Blöcker, Benjamin Henrichs, Karin Kathrein oder Marcel Reich-Ranicki
groĂe Verdienste um die Durchsetzung seines Werks. Sie trugen ganz wesentlich
zur Popularisierung von Bernhards Literatur im deutschsprachigen Raum bei.
Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. MĂŒnchen: C. H.
Beck 2004, S.Â
118 â 132; Martin Huber: Was war der âSkandalâ an Heldenplatz? Zur Rekonstruk-
tion einer österreichischen Erregung. In: Thomas Bernhard. Gesellschaftliche und politische
Bedeutung der Literatur (Anm.Â
6), S.Â
129 â 136; auĂerdem den Kommentar in Thomas Bernhard:
Heldenplatz. Mit einem Kommentar v. Martin Huber. Berlin: Suhrkamp 2012. Zur Konzentration
auf die âweit ausholenden Tiraden gegen Ăsterreichâ in der Rezeption von Bernhards SpĂ€twerk
bei gleichzeitiger VernachlĂ€ssigung der âdichterische[n] QualitĂ€tâ der jeweiligen Texte jetzt
auch Axel Diller/Manfred Mittermayer: Rezeption der Prosa im deutschen Sprachraum. In:
Bernhard-Handbuch. Leben â Werk â Wirkung. Hg. v. Martin Huber u. M. M. Unter Mitarb.
v. Bernhard Judex. Stuttgart: Metzler 2018, S. 478 â 483, hier S. 479.
76 Bernhard an Unseld, 22. 11. 1972. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 11), S. 329. â
Lassen Bernhards Kritikerschelten dabei auch nichts an Deutlichkeit vermissen, agitierte er
doch nicht mit der gleichen rhetorischen Derbheit wie der 13Â Jahre jĂŒngere Peter Turrini, mit
dem Bernhard seit den spĂ€ten 1950er Jahren bekannt war: âDamit ist der Kritiker nur noch
einem hauptberuflich tĂ€tigen Onanisten vergleichbar, der es im Laufe von zehn fleiĂigen Jahre
auf mehr als fĂŒnfzig Arten des Wichsens gebracht hat.Â
[âŠ] Wer die AusscheidungskĂ€mpfe sieg-
reich besteht und seinen Kollegen immer um zwei Tropfen voraus ist, der darf sich GroĂkritiker
oder GroĂwichser oder Juror des Berliner Theatertreffens nennen.â (Peter Turrini: Kulturkritik.
[1974] In: P. T.: Mein Ăsterreich. Reden, Polemiken, AufsĂ€tze. Darmstadt: Luchterhand 1988,
S.Â
27 â 39, hier S.Â
30 f.) Zu Turrinis Konflikten mit der Literaturkritik vgl. Franz Schuh: All you
need is love. Notizen und Exzerpte zur (Literatur-)Kritik. In: F. S.: SchreibkrĂ€fte. Ăber Litera-
tur, GlĂŒck und UnglĂŒck. Köln: DuMont 2000, S. 24 â 114, hier S. 36 â 41.
âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 83
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471