Seite - 83 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Dennoch sticht in Bernhards Brief an Unseld erneut die Apodiktik seiner denun-
ziatorischen Feststellung ins Auge: Nicht eine erhebliche Anzahl von Kritiken
oder bestimmte meinungsbildende Zeitungen, etwa die auflagenstarke Kronen-
Zeitung, fallen unter sein vernichtendes Urteil, lediglich „Blödsinn“ von sich zu
geben, sondern eben ausnahmslos „alle Kritiker“.
„Höre ich meinen Namen aus dem Rundfunk“, schreibt Bernhard bereits
im Herbst 1972, einige Monate nach dem Salzburger ‚Notlicht-Skandal‘ um Der
Ignorant und der Wahnsinnige, an Unseld, „sehe ich mich im Dreck liegen, lese
ich meinen Namen in der Zeitung, glaube ich, ich bin in einer Kloake.“ 76 Ein
ums andere Mal hat der Autor festgehalten, seit Beginn seiner schriftstellerischen
Laufbahn von einer breiten Front der Kritik abgelehnt worden zu sein – auch
wenn sich dieser Befund bei der Relektüre der zeitgenössischen Rezensionen der
Prosaarbeiten und Bühnenstücke Bernhards kaum verifizieren lässt. Zwar fanden
einzelne Texte nur wenig positive Resonanz bei den Literatur- und Theater-
kritikern (etwa die Wiener Uraufführung der Berühmten 1976), von einer ein-
helligen Ablehnung seiner Literatur im Feuilleton kann jedoch, wie in der Folge
an einem Beispiel gezeigt werden soll, nicht die Rede sein. Vielmehr erwarben
sich im Laufe der Jahre zahlreiche bedeutende und einflussreiche Kritiker wie
Günther Blöcker, Benjamin Henrichs, Karin Kathrein oder Marcel Reich-Ranicki
große Verdienste um die Durchsetzung seines Werks. Sie trugen ganz wesentlich
zur Popularisierung von Bernhards Literatur im deutschsprachigen Raum bei.
Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. München: C. H.
Beck 2004, S.
118 – 132; Martin Huber: Was war der „Skandal“ an Heldenplatz? Zur Rekonstruk-
tion einer österreichischen Erregung. In: Thomas Bernhard. Gesellschaftliche und politische
Bedeutung der Literatur (Anm.
6), S.
129 – 136; außerdem den Kommentar in Thomas Bernhard:
Heldenplatz. Mit einem Kommentar v. Martin Huber. Berlin: Suhrkamp 2012. Zur Konzentration
auf die „weit ausholenden Tiraden gegen Österreich“ in der Rezeption von Bernhards Spätwerk
bei gleichzeitiger Vernachlässigung der „dichterische[n] Qualität“ der jeweiligen Texte jetzt
auch Axel Diller/Manfred Mittermayer: Rezeption der Prosa im deutschen Sprachraum. In:
Bernhard-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Martin Huber u. M. M. Unter Mitarb.
v. Bernhard Judex. Stuttgart: Metzler 2018, S. 478 – 483, hier S. 479.
76 Bernhard an Unseld, 22. 11. 1972. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 11), S. 329. –
Lassen Bernhards Kritikerschelten dabei auch nichts an Deutlichkeit vermissen, agitierte er
doch nicht mit der gleichen rhetorischen Derbheit wie der 13 Jahre jüngere Peter Turrini, mit
dem Bernhard seit den späten 1950er Jahren bekannt war: „Damit ist der Kritiker nur noch
einem hauptberuflich tätigen Onanisten vergleichbar, der es im Laufe von zehn fleißigen Jahre
auf mehr als fünfzig Arten des Wichsens gebracht hat.
[…] Wer die Ausscheidungskämpfe sieg-
reich besteht und seinen Kollegen immer um zwei Tropfen voraus ist, der darf sich Großkritiker
oder Großwichser oder Juror des Berliner Theatertreffens nennen.“ (Peter Turrini: Kulturkritik.
[1974] In: P. T.: Mein Österreich. Reden, Polemiken, Aufsätze. Darmstadt: Luchterhand 1988,
S.
27 – 39, hier S.
30 f.) Zu Turrinis Konflikten mit der Literaturkritik vgl. Franz Schuh: All you
need is love. Notizen und Exzerpte zur (Literatur-)Kritik. In: F. S.: Schreibkräfte. Über Litera-
tur, Glück und Unglück. Köln: DuMont 2000, S. 24 – 114, hier S. 36 – 41.
„vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 83
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471