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dieses Defizit 1983 im Besonderen den bundesdeutschen Rezensenten und weist
zudem darauf hin, dass die Fokussierung vieler Kritiker auf die histoire seiner
Texte den Blick auf den discours, auf das âWieâ seines ErzĂ€hlens verstelle:
Ja, was ich schreibe, kann man nur verstehen, wenn man sich klarmacht, daĂ
zuallererst die musikalische Komponente zÀhlt und daà erst an zweiter Stelle das
kommt, was ich erzÀhle. Wenn das erste einmal da ist, kann ich anfangen, Dinge
und Ereignisse zu beschreiben. Das Problem liegt im Wie. Leider haben die Kriti-
ker in Deutschland kein Ohr fĂŒr die Musik, die fĂŒr den Schriftsteller so wesentlich
ist. (TBW 22.2, 250)82
Ăhnliche Beobachtungen sollte einige Jahre spĂ€ter, in affirmativem Rekurs auf
Bernhard, aber poetologisch deutlich versierter, auch Elfriede Jelinek formulieren:
Diese Art Literatur, die sich mit der Sprache selbst beschÀftigt, im Anschluss an den
frĂŒhen Wittgenstein und vor allem in der Nachfolge der Wiener Gruppe, der ich
samt Artmann, Jandl und Mayröcker eigentlich das allermeiste verdanke, ist typisch
österreichisch. Ich habe das GefĂŒhl, die Deutschen verstehen nicht wirklich, was
ich schreibe, oder nur wenige von ihnen. Sie haben eine ganz andere literarische
Tradition, eben die realistische, erzÀhlerische. Als hÀtte es nicht schon die Brecht-
Lukåcs- Realismusdebatte gegeben. Sie erzÀhlen immer wieder vor sich hin. Dazu
kommt, dass ich Musikerin bin und eher lautlich, musikalisch die Sprache auf ihren
Ideologie charakter abklopfe, wie ein Arzt einen Brustkorb.83
Sie habe, so Jelinek, âimmer darunter gelitten, dass die Leute an meiner Arbeit
nur die OberflÀchenstrukturen gesehen haben, sozusagen nur die Melodie, nicht
die harmonische Verarbeitung der Melodieâ.84 Ganz analog zu Bernhard besteht
Jelinek darauf, âeine Zwischenform zwischen Komponieren und Schreibenâ zu
betreiben, die bei nicht entsprechend sensibilisierten Lesern â und man kann
diesen âLeutenâ auch hier die Riege der Kritiker zurechnen â fĂŒr UnverstĂ€nd-
nis und Irritation sorge: âDas geht sicher so weit, dass Leute, die sich nie mit
Musik beschĂ€ftigt haben, sofern es die ĂŒberhaupt noch gibt, weil sich ja jeder
82 Vgl. dazu auch das Interview mit Werner Wögerbauer aus dem Jahr 1986, wobei man sich der
bestÀndigen Ironisierungstendenzen von Bernhards GesprÀchsduktus stets bewusst bleiben
muss: âKönnte ein deutscher Autor so schreiben? / Na sicher nicht, Gott sei Dank. Die Deutschen
sind ja unmusikalisch, das ist ja ganz etwas anderes.â (TBW 22.2, 290)
83 Andreas Puff-Trojan: âVielleicht sind ja doch die Alpen schuldâ. GesprĂ€ch mit Elfriede Jelinek.
In: Frankfurter Rundschau, 13. 10. 2004.
84 Frido HĂŒtter: âIch schulde so vielen so vielesâ. NobelpreistrĂ€gerin Elfriede Jelinek ĂŒber die
Hoffnung auf RĂŒckkehr zur NormalitĂ€t und den Zusammenhang von Text und Musik. In:
Kleine Zeitung, 10. 10. 2004.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik86
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471