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das der Autor auf Frost niedergehen sah (TBW 22.2, 384), war bei Weitem nicht
so verheerend, wie er es im Nachhinein dargestellt hat. Zum einen reagierten
die meisten Rezensenten in österreichischen Zeitungen und Zeitschriften positiv
und wohlwollend auf sein erstes Prosabuch, zum anderen setzten sich österrei-
chische Autorenkollegen â neben Carl Zuckmayer etwa der zwei Jahre jĂŒngere
Humbert Fink â in bundesdeutschen Medien fĂŒr Bernhard ein: âDieser âFrostâ
ist ein DebĂŒtâ, heiĂt es in Finks ausfĂŒhrlicher Besprechung in der Deutschen
Zeitung, âdas zweifellos Genie verrĂ€t; es ist der Prosatext eines jungen Autors,
der uns von der Zukunft dieses Autors ĂŒberzeugtâ.112
Womöglich hatte Bernhard bei seinem Kommentar zum fatalen âBespre-
chungsgewitterâ aber auchÂ
â stĂ€rker als die unmittelbare Rezeption von Frost in
den Jahren 1963/1964Â
â die Ereignisse im Anschluss an die Verleihung des Ăster-
reichischen Staatspreises am 4. MÀrz 1968 vor Augen, jene Veranstaltung also,
die den endgĂŒltigen âEinzug der Person Bernhards ins öffentliche BewuĂtseinâ
markierte.113 Bernhards Preisrede ĂŒber den âRequisitenstaatâ Ăsterreich, âder
von einem ahnungslose[n] Volkâ, von âGeschöpfe[n] der Agonieâ bewohnt werde
(TBW 22.2, 23), wurde von vielen, zumal von anwesenden Politikern, als offene
Insultation des Landes verstanden und erfĂŒllte damit, so Josef Donnenberg, den
âTatbestand eines öffentlichen Ărgernissesâ.114 Im Anschluss an die Preisverleihung,
deren UmstÀnde Bernhard gleich in mehreren Varianten literarisch gestaltet und
stilisiert hat (u. a. in Wittgensteins Neffe und Meine Preise), wurde nicht nur die
Zeremonie zur Ăberreichung des Anton-Wildgans-Preises, der Bernhard eben-
falls zugesprochen worden war, abgesagt; auch die Salzburger Politik wurde auf
den Autor und sein Buch aufmerksam. (Der Ăsterreichische Staatspreis war
Bernhard nicht fĂŒr den aktuellen Roman Verstörung aus dem Jahr 1967, sondern
eben fĂŒr Frost verliehen worden.) Hatte die Salzburger Lokalpresse Frost im Jahr
des Erscheinens, wie oben zitiert, noch positiv aufgenommen, waren die Passa-
gen ĂŒber Weng, den âdĂŒsterste[n] Ortâ, den der ErzĂ€hler âjemals gesehen habeâ
(TBW 1, 10), nun Gegenstand einer Anfrage im Salzburger Landtag.
âTatsĂ€chlich erschreckt mich diese Gegendâ, so der Famulant am Beginn
seiner Aufzeichnungen aus dem Salzburger Pongau, ânoch mehr die Ortschaft,
112 Humbert Fink: Auf der Spur des Malers Strauch. Thomas Bernhards DebĂŒt als ErzĂ€hler. In:
Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung, 24./25. 8. 1963.
113 Wendelin Schmidt-Dengler: Der ĂbertreibungskĂŒnstler. Studien zu Thomas Bernhard. Wien:
Sonderzahl 1986, S. 96.
114 Donnenberg: Thomas Bernhards Zeitkritik und Ăsterreich (Anm. 10), S. 55. Zu Bernhards
Reden vgl. Anne Ulrich: âIch bin kein Redner und ich kann ĂŒberhaupt keine Rede haltenâ.
Thomas Bernhard und seine Preise. In: Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Hg.
v. Joachim Knape u. Olaf Kramer. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2011, S.Â
45 â 62, sowie
jetzt auch Harald Gschwandtner: Journalistisches, Reden, Interviews. In: Bernhard-Handbuch
(Anm. 75), S. 270 â 278, hier S. 270 â 272.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik94
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471