Seite - 94 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 94 -
Text der Seite - 94 -
das der Autor auf Frost niedergehen sah (TBW 22.2, 384), war bei Weitem nicht
so verheerend, wie er es im Nachhinein dargestellt hat. Zum einen reagierten
die meisten Rezensenten in österreichischen Zeitungen und Zeitschriften positiv
und wohlwollend auf sein erstes Prosabuch, zum anderen setzten sich österrei-
chische Autorenkollegen – neben Carl Zuckmayer etwa der zwei Jahre jüngere
Humbert Fink – in bundesdeutschen Medien für Bernhard ein: „Dieser ‚Frost‘
ist ein Debüt“, heißt es in Finks ausführlicher Besprechung in der Deutschen
Zeitung, „das zweifellos Genie verrät; es ist der Prosatext eines jungen Autors,
der uns von der Zukunft dieses Autors überzeugt“.112
Womöglich hatte Bernhard bei seinem Kommentar zum fatalen „Bespre-
chungsgewitter“ aber auch
– stärker als die unmittelbare Rezeption von Frost in
den Jahren 1963/1964
– die Ereignisse im Anschluss an die Verleihung des Öster-
reichischen Staatspreises am 4. März 1968 vor Augen, jene Veranstaltung also,
die den endgültigen „Einzug der Person Bernhards ins öffentliche Bewußtsein“
markierte.113 Bernhards Preisrede über den „Requisitenstaat“ Österreich, „der
von einem ahnungslose[n] Volk“, von „Geschöpfe[n] der Agonie“ bewohnt werde
(TBW 22.2, 23), wurde von vielen, zumal von anwesenden Politikern, als offene
Insultation des Landes verstanden und erfüllte damit, so Josef Donnenberg, den
„Tatbestand eines öffentlichen Ärgernisses“.114 Im Anschluss an die Preisverleihung,
deren Umstände Bernhard gleich in mehreren Varianten literarisch gestaltet und
stilisiert hat (u. a. in Wittgensteins Neffe und Meine Preise), wurde nicht nur die
Zeremonie zur Überreichung des Anton-Wildgans-Preises, der Bernhard eben-
falls zugesprochen worden war, abgesagt; auch die Salzburger Politik wurde auf
den Autor und sein Buch aufmerksam. (Der Österreichische Staatspreis war
Bernhard nicht für den aktuellen Roman Verstörung aus dem Jahr 1967, sondern
eben für Frost verliehen worden.) Hatte die Salzburger Lokalpresse Frost im Jahr
des Erscheinens, wie oben zitiert, noch positiv aufgenommen, waren die Passa-
gen über Weng, den „düsterste[n] Ort“, den der Erzähler „jemals gesehen habe“
(TBW 1, 10), nun Gegenstand einer Anfrage im Salzburger Landtag.
„Tatsächlich erschreckt mich diese Gegend“, so der Famulant am Beginn
seiner Aufzeichnungen aus dem Salzburger Pongau, „noch mehr die Ortschaft,
112 Humbert Fink: Auf der Spur des Malers Strauch. Thomas Bernhards Debüt als Erzähler. In:
Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung, 24./25. 8. 1963.
113 Wendelin Schmidt-Dengler: Der Übertreibungskünstler. Studien zu Thomas Bernhard. Wien:
Sonderzahl 1986, S. 96.
114 Donnenberg: Thomas Bernhards Zeitkritik und Österreich (Anm. 10), S. 55. Zu Bernhards
Reden vgl. Anne Ulrich: „Ich bin kein Redner und ich kann überhaupt keine Rede halten“.
Thomas Bernhard und seine Preise. In: Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Hg.
v. Joachim Knape u. Olaf Kramer. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S.
45 – 62, sowie
jetzt auch Harald Gschwandtner: Journalistisches, Reden, Interviews. In: Bernhard-Handbuch
(Anm. 75), S. 270 – 278, hier S. 270 – 272.
Unfreundliche Betrachtungen: Einwände gegen die
Literaturkritik94
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471