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1968 in der Berliner Akademie der KĂŒnste organisiert wurde. Ziel dieses Veranstal-
tungsformats war esÂ
â als Gegenentwurf zum Modus der Gruppe 47, die ein Jahr
zuvor in der oberfrĂ€nkischen PulvermĂŒhle ihr letztes Treffen abgehalten hatteÂ
â
nicht eine Ad-hoc-Kritik zu einem erstmals gelesenen Text zu liefern, sondern
auf der Basis eines vorab bekannten Lesetextes und eines ebenfalls schriftlich
vorliegenden Kommentars ein GesprÀch zwischen Schriftstellern und Kritikern
zu initiieren. Die Autoren hatten die Möglichkeit, sich auf der BĂŒhne gegen die
Argumente der Journalisten zu verteidigen, ja selbst EinwÀnde gegen die Praxis
der Kritiker zu erheben. Die sonstige âAsymmetrieÂ
[âŠ] im VerhĂ€ltnis von Lite-
ratur und Kritikâ 119 sollte damit ein StĂŒck weit ausbalanciert werden. Zudem
durften die GesprĂ€cheÂ
â auch darin unterschied sich das Format von jenem der
Gruppe 47Â â ĂŒber den konkreten literarischen Text hinaus auch grundlegende
poetologische Fragen berĂŒhren. Jedem literarischen Autor wurde ein Kritiker
zugeteilt, die einzelnen Paare im Vorfeld mit den Beteiligten abgesprochen.120
Waren bei den ersten beiden Terminen der Reihe am 3. und 10. November 1968
u. a. Bernhards Landsleute Oswald Wiener und Barbara Frischmuth auf- bzw.
gegen Karl Heinz Kramberg und Wolfgang Werth angetreten, hatte man fĂŒr die
dritte und letzte Ausgabe Thomas Bernhard und den streitbaren Rolf Dieter
Brinkmann eingeladen. Die Rolle der Kritiker sollten Rudolf Hartung und Marcel
Reich-Ranicki ĂŒbernehmen, wobei Letzterer gleich mit beiden Autoren des
Abends in Konflikt geriet.121
Das Typoskript von Hartungs mit âThomas Bernhardâ ĂŒberschriebenen Aus-
fĂŒhrungen, die sich zu groĂen Teilen auf die ErzĂ€hlung Ungenach (1968) beziehen
und spĂ€ter die Grundlage fĂŒr Hartungs Rezension im Deutschlandfunk bilden
sollten,122 hat sich in Bernhards Nachlass erhalten. Es weist eine Vielzahl hand-
schriftlicher Anmerkungen des Autors auf, die den Duktus, die Terminologie
und die konkreten Textbeobachtungen Hartungs kritisch reflektieren. Sie bieten
einen aufschlussreichen Einblick in das, was man im Sinne einer auktorialen
Werkpolitik als Verteidigung der eigenen Poetik gegen externe Festlegungen und
Deutungen beschreiben kann. WĂ€hrend Bernhard die Literaturkritik sonst meist
in toto als unzulÀnglich und gedankenlos denunziert, ohne dieses Urteil im Detail
zu belegen â âWie Sie ja wahrscheinlich, sicher wissen, gibt es ja ĂŒberhaupt nur
dumme, darunter aber verheerend ganz dumme Kritikerâ, so Bernhard etwa ein
119 Uwe C. Steiner: Literatur als Kritik der Kritik. Die Debatte um Peter Handkes Mein Jahr in der
Niemandsbucht und die Langsame Heimkehr. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider
ihre VerĂ€chter. Hg. v. Christian Döring. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S.Â
127 â 169, hier S.Â
139.
120 Vgl. zum Modus der Veranstaltung Raimund Fellinger: âIch bin kein TeppichknĂŒpferâ. In:
Berlin, 17.Â
November 1968. Autoren diskutieren mit ihren Kritikern. Thomas Bernhard disku-
tiert mit Rudolf Hartung. Mattighofen: Korrektur 2017, S. 35 â 39, hier S. 35.
121 Vgl. Kap. IV, Abschnitt âIm Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseldâ.
122 Vgl. Fellinger: âIch bin kein TeppichknĂŒpferâ (Anm. 120), S. 36.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik96
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471