Seite - 96 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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1968 in der Berliner Akademie der Künste organisiert wurde. Ziel dieses Veranstal-
tungsformats war es
– als Gegenentwurf zum Modus der Gruppe 47, die ein Jahr
zuvor in der oberfränkischen Pulvermühle ihr letztes Treffen abgehalten hatte
–
nicht eine Ad-hoc-Kritik zu einem erstmals gelesenen Text zu liefern, sondern
auf der Basis eines vorab bekannten Lesetextes und eines ebenfalls schriftlich
vorliegenden Kommentars ein Gespräch zwischen Schriftstellern und Kritikern
zu initiieren. Die Autoren hatten die Möglichkeit, sich auf der Bühne gegen die
Argumente der Journalisten zu verteidigen, ja selbst Einwände gegen die Praxis
der Kritiker zu erheben. Die sonstige „Asymmetrie
[…] im Verhältnis von Lite-
ratur und Kritik“ 119 sollte damit ein Stück weit ausbalanciert werden. Zudem
durften die Gespräche
– auch darin unterschied sich das Format von jenem der
Gruppe 47 – über den konkreten literarischen Text hinaus auch grundlegende
poetologische Fragen berühren. Jedem literarischen Autor wurde ein Kritiker
zugeteilt, die einzelnen Paare im Vorfeld mit den Beteiligten abgesprochen.120
Waren bei den ersten beiden Terminen der Reihe am 3. und 10. November 1968
u. a. Bernhards Landsleute Oswald Wiener und Barbara Frischmuth auf- bzw.
gegen Karl Heinz Kramberg und Wolfgang Werth angetreten, hatte man für die
dritte und letzte Ausgabe Thomas Bernhard und den streitbaren Rolf Dieter
Brinkmann eingeladen. Die Rolle der Kritiker sollten Rudolf Hartung und Marcel
Reich-Ranicki übernehmen, wobei Letzterer gleich mit beiden Autoren des
Abends in Konflikt geriet.121
Das Typoskript von Hartungs mit „Thomas Bernhard“ überschriebenen Aus-
führungen, die sich zu großen Teilen auf die Erzählung Ungenach (1968) beziehen
und später die Grundlage für Hartungs Rezension im Deutschlandfunk bilden
sollten,122 hat sich in Bernhards Nachlass erhalten. Es weist eine Vielzahl hand-
schriftlicher Anmerkungen des Autors auf, die den Duktus, die Terminologie
und die konkreten Textbeobachtungen Hartungs kritisch reflektieren. Sie bieten
einen aufschlussreichen Einblick in das, was man im Sinne einer auktorialen
Werkpolitik als Verteidigung der eigenen Poetik gegen externe Festlegungen und
Deutungen beschreiben kann. Während Bernhard die Literaturkritik sonst meist
in toto als unzulänglich und gedankenlos denunziert, ohne dieses Urteil im Detail
zu belegen – „Wie Sie ja wahrscheinlich, sicher wissen, gibt es ja überhaupt nur
dumme, darunter aber verheerend ganz dumme Kritiker“, so Bernhard etwa ein
119 Uwe C. Steiner: Literatur als Kritik der Kritik. Die Debatte um Peter Handkes Mein Jahr in der
Niemandsbucht und die Langsame Heimkehr. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider
ihre Verächter. Hg. v. Christian Döring. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S.
127 – 169, hier S.
139.
120 Vgl. zum Modus der Veranstaltung Raimund Fellinger: „Ich bin kein Teppichknüpfer“. In:
Berlin, 17.
November 1968. Autoren diskutieren mit ihren Kritikern. Thomas Bernhard disku-
tiert mit Rudolf Hartung. Mattighofen: Korrektur 2017, S. 35 – 39, hier S. 35.
121 Vgl. Kap. IV, Abschnitt „Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld“.
122 Vgl. Fellinger: „Ich bin kein Teppichknüpfer“ (Anm. 120), S. 36.
Unfreundliche Betrachtungen: Einwände gegen die
Literaturkritik96
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471