Page - 105 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Image of the Page - 105 -
Text of the Page - 105 -
gröĂtenÂ
[âŠ] lebendenÂ
[âŠ] Schauspielerâ bezeichnet hatte (TBW 22.1, 642),165 als
greisen, schon zur senilen LĂ€cherlichkeit neigenden Mimen auftreten. Bernhard
Minetti sollteÂ
â Ironie der GeschichteÂ
â den Autor allerdings um fast zehn Jahre
ĂŒberleben: Noch 1998, wenige Monate vor seinem Tod, stand der Schauspieler
auf der BĂŒhne des Berliner Ensembles.
Bernhards BĂŒhnenfigur Minetti teilt zwar einige biographische Merkmale
mit dem realen Schauspieler gleichen Namens, ist aber weit davon entfernt, ein
Biopic zu sein.166 In einem Hotel an der AtlantikkĂŒste wartet Minetti vergebens
auf den Direktor des Flensburger Theaters, rĂ€soniert ĂŒber die Erfolge und Miss-
erfolge seiner Laufbahn sowie seine Lebensrolle des King Lear, wobei âPerfekto-
manieâ und âpathologische[Â
] Exzentrikâ des gealterten Schauspielers zusehends
zutage treten.167 Er fĂŒhlt sich in Bezug auf seine Lebensleistung verkannt. Ganz
Ă€hnlich wie Bernhard im autobiographischen Band Der Keller (ebenfalls 1976
erschienen) definiert Minetti seine Kunst als bewusste Entscheidung fĂŒr die âent-
gegengesetzte Richtungâ, eine Haltung, die ihm, so der Mime, stets âEinsamkeitâ,
165 Vgl. dazu auch den ersten Satz von Bernhards in einer Festschrift zu Siegfried Unselds 60.
Geburtstag (Der Verleger und seine Autoren, 1984) gedrucktem Beitrag: âWenn Shakespeare
der gröĂte Dichter und Minetti der gröĂte Schauspieler, dann ist Unseld der gröĂte Verleger.â
(TBW 22.1, 626) Siehe auch Bernhards Bemerkungen in Hofmann: Aus GesprÀchen mit Thomas
Bernhard (Anm. 4), S. 81 f.
166 Vgl. Gabriella Rovagnati: King Lear als Obsession: Minetti von Thomas Bernhard. In: G. R.:
Studien zur österreichischen Literatur: Von Nestroy bis Ransmayr. Frankfurt a. M.: Lang 2016,
S.Â
299 â 306, hier S.Â
300; Podlasiak: Das Geistesduo (Anm.Â
163), S.Â
101 â 103. Alfred Barthofer: King
Lear in DinkelsbĂŒhl. Historisch-Biographisches zu Thomas Bernhards TheaterstĂŒck Minetti. In:
Maske und Kothurn 23 (1977), S. 159 â 172, hier S. 162, hat indes auf die NĂ€he der BĂŒhnenfigur
Minetti weniger zu seinem Namensvetter Bernhard Minetti als zu Werner KrauĂ hingewiesen,
der âim Jahre 1959 unmittelbar nach einer âLearâ-AuffĂŒhrung des Wiener Burgtheatersâ ver-
starb. Zu den biographischen Parallelen zwischen der Dramenfigur und KrauĂ in Bernhards
Theatertext vgl. ebd., S. 161 â 172. Barthofer verweist dabei mehrmals auf âdas Spielverbot, das
Werner KrauĂ nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges drei Jahre lang vom Theater fernhielt
und seelisch tief verwundeteâ (ebd., S. 162), sowie auf die âGefĂŒhlslage [âŠ], in der sich der
âgröĂte Schauspieler dieses Zeitaltersâ zwischen 1945 und 1950 befunden haben dĂŒrfte, als er
von der BĂŒhne verbannt war und nur in kleinen ProvinzstĂ€dten arbeiten durfteâ (ebd., S.Â
171),
verschweigt jedoch geflissentlich den Grund dafĂŒr, nĂ€mlich KrauĂâ Rolle im Kultur betrieb des
Dritten Reichs. Siehe dazu den Eintrag in Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer
war was vor und nach 1945. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2009, S. 304 â 305; zur Diskussion um
die historische Referenzierung der Bernhardâschen BĂŒhnenfigur Minetti vgl. jetzt Mittermayer:
Thomas Bernhard [2015] (Anm. 42), S. 281 f.
167 Rovagnati: King Lear als Obsession (Anm.Â
166), S.Â
305. Sandra Heinrici: Maskenwahnsinn. Dar-
stellungsformen des Wahnsinns im europĂ€ischen Theater des 20.Â
Jahrhunderts. Bonn: Bouvier
2008, S.Â
109 f., zufolge findet im Zuge des StĂŒckes âbei Minetti neben einer Bestandsaufnahme
seines Lebens auch ein Prozess der Selbstbewusstwerdung statt, insofern als er nach und nach
seine SelbsttÀuschung, die in einem Prolongieren der Vergangenheit in die Gegenwart besteht,
zu erkennen scheint.â âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne 105
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471