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größten
[…] lebenden
[…] Schauspieler“ bezeichnet hatte (TBW 22.1, 642),165 als
greisen, schon zur senilen Lächerlichkeit neigenden Mimen auftreten. Bernhard
Minetti sollte
– Ironie der Geschichte
– den Autor allerdings um fast zehn Jahre
überleben: Noch 1998, wenige Monate vor seinem Tod, stand der Schauspieler
auf der Bühne des Berliner Ensembles.
Bernhards Bühnenfigur Minetti teilt zwar einige biographische Merkmale
mit dem realen Schauspieler gleichen Namens, ist aber weit davon entfernt, ein
Biopic zu sein.166 In einem Hotel an der Atlantikküste wartet Minetti vergebens
auf den Direktor des Flensburger Theaters, räsoniert über die Erfolge und Miss-
erfolge seiner Laufbahn sowie seine Lebensrolle des King Lear, wobei „Perfekto-
manie“ und „pathologische[
] Exzentrik“ des gealterten Schauspielers zusehends
zutage treten.167 Er fühlt sich in Bezug auf seine Lebensleistung verkannt. Ganz
ähnlich wie Bernhard im autobiographischen Band Der Keller (ebenfalls 1976
erschienen) definiert Minetti seine Kunst als bewusste Entscheidung für die „ent-
gegengesetzte Richtung“, eine Haltung, die ihm, so der Mime, stets „Einsamkeit“,
165 Vgl. dazu auch den ersten Satz von Bernhards in einer Festschrift zu Siegfried Unselds 60.
Geburtstag (Der Verleger und seine Autoren, 1984) gedrucktem Beitrag: „Wenn Shakespeare
der größte Dichter und Minetti der größte Schauspieler, dann ist Unseld der größte Verleger.“
(TBW 22.1, 626) Siehe auch Bernhards Bemerkungen in Hofmann: Aus Gesprächen mit Thomas
Bernhard (Anm. 4), S. 81 f.
166 Vgl. Gabriella Rovagnati: King Lear als Obsession: Minetti von Thomas Bernhard. In: G. R.:
Studien zur österreichischen Literatur: Von Nestroy bis Ransmayr. Frankfurt a. M.: Lang 2016,
S.
299 – 306, hier S.
300; Podlasiak: Das Geistesduo (Anm.
163), S.
101 – 103. Alfred Barthofer: King
Lear in Dinkelsbühl. Historisch-Biographisches zu Thomas Bernhards Theaterstück Minetti. In:
Maske und Kothurn 23 (1977), S. 159 – 172, hier S. 162, hat indes auf die Nähe der Bühnenfigur
Minetti weniger zu seinem Namensvetter Bernhard Minetti als zu Werner Krauß hingewiesen,
der „im Jahre 1959 unmittelbar nach einer ‚Lear‘-Aufführung des Wiener Burgtheaters“ ver-
starb. Zu den biographischen Parallelen zwischen der Dramenfigur und Krauß in Bernhards
Theatertext vgl. ebd., S. 161 – 172. Barthofer verweist dabei mehrmals auf „das Spielverbot, das
Werner Krauß nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges drei Jahre lang vom Theater fernhielt
und seelisch tief verwundete“ (ebd., S. 162), sowie auf die „Gefühlslage […], in der sich der
‚größte Schauspieler dieses Zeitalters‘ zwischen 1945 und 1950 befunden haben dürfte, als er
von der Bühne verbannt war und nur in kleinen Provinzstädten arbeiten durfte“ (ebd., S.
171),
verschweigt jedoch geflissentlich den Grund dafür, nämlich Krauß’ Rolle im Kultur betrieb des
Dritten Reichs. Siehe dazu den Eintrag in Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer
war was vor und nach 1945. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2009, S. 304 – 305; zur Diskussion um
die historische Referenzierung der Bernhard’schen Bühnenfigur Minetti vgl. jetzt Mittermayer:
Thomas Bernhard [2015] (Anm. 42), S. 281 f.
167 Rovagnati: King Lear als Obsession (Anm.
166), S.
305. Sandra Heinrici: Maskenwahnsinn. Dar-
stellungsformen des Wahnsinns im europäischen Theater des 20.
Jahrhunderts. Bonn: Bouvier
2008, S.
109 f., zufolge findet im Zuge des Stückes „bei Minetti neben einer Bestandsaufnahme
seines Lebens auch ein Prozess der Selbstbewusstwerdung statt, insofern als er nach und nach
seine Selbsttäuschung, die in einem Prolongieren der Vergangenheit in die Gegenwart besteht,
zu erkennen scheint.“ „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne 105
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471