Page - 124 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Eigenschaftswort âsaftigâ steht zur VerfĂŒgung, andere wĂŒrden vielleicht sagen: âfabu-
lierfreudigâ und âbuntâ: ganz nach Belieben. Ein Ereignis ist das Buch nicht, aber
jedenfalls ein VergnĂŒgen.233
AnlÀsslich der Besprechung von Friedrich Hackers Monographie Versagt der
Mensch oder die Gesellschaft?, die sich âProbleme[n] der modernen Kriminal-
psychologieâ widmet,234 hat Handke im Februar 1966 seine Vorbehalte noch einmal,
obgleich hier am Beispiel wissenschaftlicher Prosa, pointiert zusammengefasst.
Seine Position ist an dieser Stelle wohl auch seiner eingehenden BeschÀftigung
mit Roland Barthesâ Begriff der Kritik geschuldet:
Es wird frisch draufloskritisiert, ohne daĂ man beachtet, daĂ die Ausdrucksweise der
Kritik oft gar nichts mehr besagt, vielmehr sich schon eingebĂŒrgert hat und demge-
mÀà konventionell ist. Die Kritiker haben gleichsam die Funktion des allgegenwÀr-
tigen ErzĂ€hlers im traditionellen Roman eingenommen; sie lassen auĂer acht, daĂ
auch die Wendungen der Kritik nicht ohne Selbstkritik auf die Materie angewendet
werden können. Ohne Reflexion der Kritik ĂŒber ihre eigenen Ausdrucksmittel wird
sie sich im Kreis drehen mĂŒssen.235
Wie in spÀteren polemischen Einlassungen zu diesem Thema zeichnet Handke
die Kritiker hier als Leser, die auf literarische Texte mittels eines eingespielten
Sets an âBewertungsworte[n]â 236 reagieren und sich genuin neuen Ă€sthetischen
Verfahren gegenĂŒber reserviert zeigen. Bezieht man Handkes Argumentation auf
die Modellbildungen der Literatursoziologie, dann entspricht sie strukturell jener
Opposition, die Pierre Bourdieu in Anlehnung an Max Webers Religionssozio-
logie zwischen âPriesternâ und âZauberernâ (bzw. in alternativer Ăbersetzung:
zwischen âPriesternâ und âProphetenâ) skizziert hat: Der Zauberer spricht sich als
AnwĂ€rter im literarischen Feld, der noch ĂŒber wenig symbolisches Kapital ver-
fĂŒgt, vehement gegen âdie Routine und Schablonenhaftigkeitâ der Priester aus,
kritisiert ihre âpedantische Ignoranz und kleinmĂŒtige Bedenklichkeitâ,237 um sich
selbst bzw. seine eigene Position als Ăberwindung und Negation des Bestehenden,
des Konventionellen zu postulieren. Handkes EinwÀnde gegen konkurrierende
233 Ebd., S. 278 f.
234 Peter Handke: âBĂŒchereckeâ vom 21. 2. 1966. In: P. H.: Tage und Werke (Anm. 21), S. 266 â 273,
hier S. 267.
235 Ebd., S. 268. Zu Handkes Auseinandersetzung mit Roland Barthes vgl. Kap. III, Abschnitt
âPrinceton 1966 und die Folgenâ.
236 Handke: âBĂŒchereckeâ vom 21. 12. 1964 (Anm. 221), S. 190.
237 Pierre Bourdieu: KĂŒnstlerische Konzeption und intellektuelles KrĂ€ftefeld. In: P. B.: Kunst und
Kultur. Kunst und kĂŒnstlerisches Feld. Schriften zur Kultursoziologie 4. Hg. v. Franz Schultheis
u. Stephan Egger. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 7 â 49, hier S. 39.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik124
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471