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Publikumsbeschimpfung, die das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum,248
von Repräsentation einer Handlung und deren passiver Konsumierung perfor-
mativ infrage stellt, ist in seiner selbstbewussten Erprobung einer damals neuen
Theater ästhetik auch auf das Vokabular der Theaterkritik bezogen, indem die Spre-
cher des Stücks die Zuschauer im Saal mit ausgewiesenen „Kritiker- Phrasen“ 249
adressieren. Das Spiel mit den Wendungen und sprachlichen Stereotypen der
Kritik ist ein wesentlicher und signifikanter Teil der Beschimpfungskaskaden, es
stellt ein zentrales Element in der Architektur der Publikumsbeschimpfung, die
Handke seinem Verleger als „mein erstes und mein letztes“ Stück angekündigt
hatte,250 dar: „Auf der Suche nach vernünftigen Wörtern und Sätzen, die man
zu Leuten sprechen könnte, die im Theater sitzen“, schreibt Handke Anfang 1967
in einem offenen Brief an Henning Rischbieter, „sind die Wörter und Sätze der
‚Publikumsbeschimpfung‘ entstanden.“ 251
Zunächst, noch bevor die eigentliche ‚Beschimpfung‘ einsetzt, werden die
Zuschauer von der Bühne herab mit Charakterisierungen bedacht, die dem Ver-
riss-Repertoire der Theaterkritik entlehnt sind bzw. die Negation, die Verkehrung
journalistischer Lobrede darstellen:
Aber Sie sind nicht abendfüllend. Sie sind ein dramaturgischer Fehlgriff. Sie sind
nicht lebensecht. Sie nicht theaterwirksam. Sie versetzen uns in keine andere Welt.
Sie bezaubern uns nicht. […] Sie unterhalten uns nicht köstlich. Sie sind nicht spiel-
freudig.
[…] Ihr Debut ist nicht überzeugend. Sie sind nicht da. Sie lassen uns die Zeit
nicht vergessen. Sie sprechen nicht den Menschen an. Sie lassen uns kalt.252
Nachdem die Sprecher schließlich kurz vor Ende des Stücks den Beginn der
‚Beschimpfung‘ angekündigt haben,253 wird das Sprachmaterial der Theaterkritik
noch einmal explizit aufgenommen und mit der Attacke gegen das Publikum
248 Otto Lorenz: Literatur als Widerspruch. Konstanten in Peter Handkes Schriftstellerkarriere.
In: Text + Kritik (51989), H. 24, S. 8 – 16, hier S. 13, spricht von der Aufhebung der „Akteur/
Zuschauer-Trennung“ in der Publikumsbeschimpfung als Teil von Handkes „Lust am Wider-
spruch“. Zur Poetik der Publikumsbeschimpfung vgl. Klaus Kastberger: Lesen und Schreiben.
Peter Handkes Theater als Text. In: Die Arbeit des Zuschauers. Peter Handke und das Theater.
Hg. v. K. K. u. Katharina Pektor. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2012, S. 35 – 48, hier S. 36 f.
249 N. N.: Handke: Unerschrocken naiv. In: Der Spiegel, Nr. 22, 25. 5. 1970, S. 174 – 190, hier S. 183.
250 Handke an Unseld, 21. 10. 1965. In: Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 2), S. 17.
251 Peter Handke: Briefe über Theater (1). In: Theater heute (1967), H. 2, S. 37.
252 Peter Handke: Publikumsbeschimpfung. In: P. H.: Publikumsbeschimpfung und andere Sprech-
stücke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1966, S. 5 – 48, hier S. 25.
253 Vgl. ebd., S. 43 f.: „Zuvor aber werden Sie noch beschimpft werden. / Sie werden beschimpft
werden, weil auch das Beschimpfen eine Art ist, mit Ihnen zu reden. Indem wir beschimpfen,
können wir unmittelbar werden. Wir können einen Funken überspringen lassen. Wir können
den Spielraum zerstören. Wir können eine Wand einreißen. Wir können Sie beachten.“
Handke und die Phrasen der Kritik 127
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471